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taz FUTURZWEI

Thomas Krüger über Wende und Rechtsruck Volk als Abgrenzung

Wer ist das Volk, Thomas Krüger? Und wer ist das Volk, das die AfD wählt? Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung im taz-FUTURZWEI-Interview.

Wer ist Wir? Die deutsche Gesellschaft ist historisch bedingt heterogen Foto: dpa / Wolfgang Kumm

taz FUTURZWEI | Ein Freitagabend in der Friedrichstraße, Berlin. Die Büros der Bundeszentrale für politische Bildung sind fast alle leer. Doch jetzt kommt aus einem Zimmer Thomas Krüger, der Chef. Er war in der DDR Vikar, dann Bürgerrechtler, hat noch vor der Öffnung der Mauer die sozialdemokratische SDP der DDR mitgegründet und war (kommissarischer) letzter Oberbürgermeister von Ostberlin.

taz FUTURZWEI: Wer ist das Volk, Herr Krüger, Sie müssten das doch wissen?

Thomas Krüger: Wer ist das Volk? Da komme ich gleich mal biografisch rüber. 1989 hieß es, wir sind das Volk.

Sie wollten damals den dritten Weg, weder die DDR behalten, wie sie war, noch sich der Bundesrepublik anschließen. Wie sind Sie denn persönlich dann im Westen angekommen?

Ich musste Ende 1989 die Entscheidung treffen: Wie geht es jetzt weiter? Ich war auf dem Trip: demokratische DDR. Aber Ende des Jahres war klar, dass die Nummer nicht wirklich läuft.

Da hat das Volk nicht mitgemacht.

Da war mir klar: Entweder musst du jetzt dieses ganze Politikding abhaken oder du musst dich neu positionieren. Ich habe dann versucht, mich zu fokussieren auf die Berliner Politik und bin auch in die Volkskammer eingezogen. Dann war ich Geschäftsführer und zweiter Vorsitzender der SPD in Ostberlin und habe den Wahlkampf für die Kommunalwahlen organisiert. Und in der Folge bin ich dann stellvertretender OB geworden und Stadtrat für Inneres. Das war eine Crash-Sozialisation. Ich habe dann mit dem Westberliner Innensenator jedes Polizeiauto mit einem Ossi und einem Wessi besetzt, die Hellersdorfer haben die Westberliner Polizisten freundlich begrüßt, und die Zehlendorfer haben Schnappatmung bekommen, als die Vopos aus dem Auto gestiegen sind.

Bild: Jordis Antonia Schlösser
Thomas Krüger

Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (seit 2000). Davor SPD- Bundestagsabgeordneter, Senator für Familie und Jugend in Berlin, für zwei Wochen letzter (kommissarischer) Oberbürgermeister von Ostberlin, davor evangelischer Theologe und engagiert bei der DDR-oppositionellen „Kirche von Unten“, davor Ausbildung zum Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung. Geboren 1959 in Buttstädt, Thüringen. Lebt in Berlin.

Und wer ist nun das Volk aus Sicht des Chefs der Bundeszentrale für politische Bildung?

Wenn man diese konstruierten Gemeinschaften von Benedict Anderson aus dessen Standardwerk Imagined Communities aufgreift, dann hast du das Volk als Demos, das Volk als Ethnos und das Volk als Populus. Populus meint das Volk gegen die Eliten. In einem Fall ist es eben das dumme Volk gegen die guten Eliten, im anderen Fall das wahre Volk gegen die korrupten Eliten. Das ist der populistische Sektor. Im ethnischen Sektor geht es um die Konstruktion eines Volkes, das sich von anderen Völkern unterscheidet. Wer gehört dazu, wer gehört nicht dazu? Und beim Demos beschreibt Volk das Verhältnis der Staatsbürger zur Staatsgewalt. Und Letzteres ist 1989 der Ausgangspunkt gewesen. Es war der Demos, der sich zu Wort gemeldet hat und nicht der Ethnos oder der Populus.

Sie riefen: Wir sind das Volk, also wir sind die Staatsbürger?

Das war eigentlich eine Reaktion auf einen ganz bestimmten Spruch der Volkspolizei. Die riefen aus ihren Wägen heraus: „Hier spricht die Volkspolizei!“ Und dann riefen die Leute zurück: „Wir sind das Volk!“

Sie forderten damit die Staatsgewalt heraus.

Beim Demos spielt immer die Selbstermächtigung eine Rolle, der Staatsgewalt entgegenzutreten. Das war im 19. Jahrhundert bei den Befreiungskriegen gegen Napoleon auch so. Das ist der Demos. Drehen tut es sich erst 1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches. Der Nationalstaat holt sich da zur Demosperspektive die Ethnosperspektive dazu. Das kann man bei der Friedlichen Revolution 1989/90 auch beobachten. Bis in den späten Herbst hieß es: Wir sind das Volk. Als Demos. Dann kommt der 9. November, der Mauerfall, und jetzt lautet der Spruch: Wir sind ein Volk.

Was heißt das?

Damit kommt der Ethnos rein, und danach sagten, zum Beispiel, die People of Color, die damals in der DDR unterwegs waren: Wir sind jetzt nicht mehr gemeint. Und Anfang 1990 dreht sich das nochmal. Volk meint jetzt zunehmend ein sehr Populistisches: Wir gegen die Eliten der runden Tische und der Volkskammer. Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, gehen wir zu ihr.

Was ist für Sie heute das Volk?

In dem Augenblick, in dem der Nationalstaat ins Spiel kommt – wir hatten ja in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz –, gibt es eine Sache, die das Volk ausmacht, und das ist Staatsbürgerschaft, das ist der Pass. Auf den ersten Blick macht Staatsbürgerschaft Ungleichheiten klein, aber eben nur im nationalen Container. Im globalen Maßstab vergrößert Staatsbürgerschaft Ungleichheiten. Der Pass ist das, was den Unterschied macht. Wenn du visafrei reisen kannst, hast du einen wertvollen Pass.

Der Pass entscheidet über Inklusion und Exklusion?

Ja, entweder gehörst du dazu oder du gehörst eben nicht dazu, zu dem Volk, zur Nation oder der entsprechenden Staatsbürgerschaft. Der entscheidende Punkt dabei ist das Recht, Rechte zu haben. Also Hannah Arendt. Und dieses Recht, Rechte zu haben, das macht den Blick frei auf die Millionen und Abermillionen Leute, die dieses Recht nicht mehr haben und auch nie mehr zurückgewinnen können.

Warum sind dann Leute, gerade im Osten, so sauer auf die Bundesrepublik, diesen liberaldemokratischen Staat, wenn Sie mit einem Pass total privilegiert sind?

Einige fühlen sich nicht wertgeschätzt und anerkannt, andere reproduzieren die Dienstleistungsmentalität und erwarten alles vom Staat. Man erwartet in Demokratien ja, dass man sich positioniert, einmischt, sichtbar macht, handelt, interveniert, eine Wahlentscheidung trifft. Es hat auch ein Stück mit dieser Transformationszeit Anfang der 1990er-Jahre zu tun, dass das im Osten vielleicht unausgeprägter ist. Aber das findet man im Westen genauso. Allein schon dadurch, dass in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer rund drei Millionen Leute per Binnenmigration von Ost nach West sind, kann man diese Einstellungsmuster heute gar nicht mehr unterscheiden. Die gibt es in Ost wie West.

Was ist das Kernproblem der liberaldemokratischen Parteien im Osten?

Es ist den bundesdeutschen Parteien nicht gelungen, Stammwähler zu gewinnen und Kohorten hinter sich zu sammeln, die diese Parteien tragen. Du hast nur ein paar Funktionäre, die Parteien kommen in der Fläche nicht vor.

Woraus folgt?

Für die Rekrutierung von Parteien als Maschinen von politischer Meinungsbildung braucht es Nachwuchs aus dem kommunalen Bereich, mit der Erfahrung, wie Politik im Kleinen funktioniert. Aber weder im Westen noch im Osten sind Parteien noch in der Lage, diese Rekrutierung vorzunehmen. Und nun erklären Sie mir in dem Zusammenhang mal, warum 2020 Matthias Hey in Gotha als einziger Thüringer Landtagsabgeordneter von der SPD direkt gewählt wurde, während alle anderen Sozis in Thüringen abkackten?

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Was ist die Antwort?

Das ist ein kommunalpolitisch verankerter und sozialisierter Typ.

Der wird als Mensch gewählt und nicht als Sozialdemokrat?

Wegen der Handlungskompetenz. Der ist erfahren worden als Handelnder.

Da sind wir an dem Punkt, an dem man dem anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg der Populisten etwas entgegensetzen kann – die Handlungsebene.

Ja, dieser Punkt ist eindeutig die Handlungsebene. Das ist auch ein Punkt der politischen Bildung. Wenn politische Bildung allein Wissen vermittelt, kommst du nicht in die Veränderungslogik rein. Erst wenn du politische Bildung nach dem Beutelsbacher Konsens verstehst ...

... diese Tagung in Beutelsbach 1976 legte Grundsätze für die politische Bildung fest ...

... ja, genau, Beutelsbacher Konsens, 3. Satz, sagt, dass das politische Handeln Teil des Bildungsprozesses ist. Und damit hat das eine andere Dimension.

Was haben denn all diese Aktivitäten, inklusive Gedenkstättenarbeit, politische Bildung, politisch-historische Bildung eigentlich bewirkt über die letzte Generation?

Man muss schon demütig sein in der politischen Bildung, gerade wenn man sich die Wirkungsfaktoren anguckt. Aber ich würde das Argument stark machen, dass da auch immer der Erwartungshorizont aufgespannt wird, dass politische Bildung für Fehler geradestehen soll, die die Politik macht. Politische Bildung kann einen Beitrag leisten hinsichtlich der Reflexion, der eigenen Position und des Einbezugs der Handlungsdimension für jeden Einzelnen. Mit politischer Bildung kann man Selbstermächtigung oder Selbstwirksamkeit anschieben.

Aber?

Sie kann nicht Politik ersetzen. Man kann nicht erwarten, dass durch diese Form von Selbstermächtigung und von Aktivierung der Rechtspopulismus verschwindet. Da gibt es als handelnde Akteure in erster Reihe immer noch eine Exekutive und eine Legislative.

Was wollen die Leute, die AfD wählen? Was für ein Volk wollen die sein?

Das ist keine homogene Gruppe. Wir waren an einer Studie beteiligt: Wie ticken Jugendliche im Alter von 14 bis 17: In bestimmten Milieus ist dieses AfD-Wählervotum komplett volatil. Die einen denken nicht groß darüber nach, die verbinden damit auch keine Exklusionsstrategie, nach dem Motto „Ausländer raus“ oder „Schwule dürfen nicht mehr ins Museum“. Andere behandeln Politik experimentell und wählen wie bei den Europawahlen unbekannte Kleinstparteien. Die einen orientieren sich an den Eltern und wählen AfD, andere sagen, das ist jetzt einfach dran. Aber es gibt eben auch ein Elektorat, das stabil AfD wählt. Im Unterschied zur NPD oder DSU, DVU, Republikaner oder was da alles war, wird das wohl auch nicht mehr verschwinden. Das ist jetzt eine Formation, die fest zum Elektorat gehört. Als CDU und SPD noch Volksparteien waren, konnten sie einen großen Teil dieser Wählervoten binden. Das scheint vorbei zu sein.

Was will diese AfD-Stammwählerschaft?

Die Hybridität von Populus und Ethnos: Volk als Abgrenzung. Ein konstruiertes homogenes Volk, und das steht versus Eliten. Das ist das, womit man sich politisch auseinandersetzen muss. Das war lange nicht in der Öffentlichkeit repräsentiert, aber es war immer in der Gesellschaft vorhanden, als Einstellungsmuster, als Stammtischparole. Es ist durch die AfD dauerhaft sichtbar geworden.

In der Entscheiderstudie von Allensbach gibt es die Frage: Wer hat in der Ampel den größten Einfluss? Da sagen die meisten: die Grünen. Ist das nicht seltsam?

Dafür gibt es aber eine Erklärung. Neben den klassischen ideologischen Kontroversen – rechts versus links – gibt es in der Gesellschaft mittlerweile neue kulturelle. Die kulturellen Achsen sind Kulturessenzialismus versus Hyperindividualismus.

AfD versus Grüne?

Ja, die Grünen gelten jetzt als die Hyperindividualistischsten, zugleich aber als diejenigen, die Verzicht fordern. Heute wird aus Klassenkampf Kulturkampf. Auch für die anderen Parteien. Unterrepräsentiert war das Linkspopulistische – bis Sahra Wagenknecht den Platz betrat. Da kriegst du jetzt das alternative wirtschaftspolitische plus migrationskritische Angebot.

Die populistischen Bewegungen sind im Kern antiwestlich, pro Russland, gegen die NATO, gegen die EU, gegen die offene Gesellschaft und gegen die USA. Das gilt auch für das BSW.

Das ist genau das Muster bei Frankreichs Linkspopulist Mélenchon: linkspopulistisches Pro-Putin und antiwestliches Verständnis von Politik. Das ist bei den traditionellen Parteien anders, die allesamt auf dem Weg zu neoliberalen und individualistischen Konzepten sind.

Wenn Wagenknecht gegen den Hyperindividualismus der Grünen und Linksliberalen herzieht, dann ist das nach dem populistischen Lehrbuch.

Ja.

Ein Populist würde darauf hinweisen, dass Wagenknecht selbst die größte Hyperindividualistin ist.

Doppelmoral findet man auch bei den anderen.

Was ist denn das Linke bei diesem Populismus?

Die alternative Wirtschaftspolitik, die argumentiert – das kennt man von Oskar Lafontaine –, wir müssen höhere Löhne zahlen und Binnenwirtschaftsmodelle entwickeln. Das ist Linksnationalismus.

Nun schlägt Steffen Mau gegen Populismus Parteiräte und staatsferne Bürgerräte vor.

Das leuchtet mir nicht ein.

Warum nicht?

Weil die Repräsentation in der Breite nicht funktioniert. Die Leute werden zwar ausgelost, aber am Ende kommen doch wieder die typischen Beteiliger. Die anderen bleiben zu Hause. Richtig ist aber: Man muss Formen finden, wie Politik nicht nur repräsentiert wird, sondern kommunikativ in die Alltagswelt unterschiedlicher Leute hinein reicht.

Bürgerräte gehen ja von der Vorstellung aus, dass das Volk an politischen Prozessen beteiligt werden will. Eine Fiktion: manche Leute ja, viele nicht.

Ich würde sogar noch einen provokativen Schritt weiter gehen und sagen: Zu viel Beteiligung führt zu noch mehr Ungleichheit in der Gesellschaft. Es ist empirisch nachweisbar, dass 25 Prozent der Leute, die sich nicht beteiligen, gar nicht mehr adressierbar sind. Deshalb ist jede Beteiligungsform eine Vergrößerungsmaschine der Ungleichheit zwischen dem aktiven und dem passiven Elektorat.

Mau hat auch konstatiert, dass West und Ost unterschiedliche Kulturen sind und auch bleiben werden. Nach 56 Jahren Diktaturerfahrung im Osten mit einer autoritären Orientierung ist das nicht überraschend.

Mau hat in seinem neuen Buch beschrieben, dass es im Osten spezielle und empirisch belegbare kulturelle Codes und Sozialisierungsmuster gibt. Es gibt aber nicht nur eine problematische Szene, es gibt genauso auch Leute, die ihren langersehnten Traum realisiert haben, ein eigenes Handwerksunternehmen zu gründen. Und es gibt ein großes demografisches Problem. Ich war vor Jahren in Anklam, an einem Schulzentrum, da berichtete der Schuldirektor, dass 95 Prozent der Abiturienten vier Wochen nach dem Abitur aus dem Landkreis und auch komplett aus dem Bundesland raus sind. Die Frauen, also auch die jungen Frauen, sind fast alle weg aus Vorpommern, und zwar ab Realschulabschluss. Zurück bleiben die bildungserfolglosen Männer und die schrumpfenden Systemträger der DDR.

Dann sind das doch die abgehängten Ostler?

Nein. Man muss die imaginierte DDR-Gesellschaft in Gänze sehen, und die lebt eben zu großen Teilen in Großstädten oder auch im Westen. Sie besteht vor allem aus qualifizierten jungen Erwachsenen. Das Wählervotum für populistische Parteien hängt stark mit der Transformationszeit der frühen 1990er-Jahre zusammen. Das ist eine kollektive Erfahrung, die zu einer kollektiven Verwundung geführt hat. 75 Prozent der Leute haben in den ersten Jahren ihren Job verloren. 80 Prozent mussten nochmal auf die Schulbank, weil ihre Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden im Zuge der Einheit, das war Schäubles Verhandlungspaket und dahinter standen Interessen.

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Warum der Rechtspopulismus global und in Ostdeutschland so erfolgreich ist, können wir analysieren. Wie man ihn bremsen kann, ist unklar.

Diesmal im Heft: Jens Balzer, Ines Geipel, Jagoda Marini , Maja Göpel, Aladin El-Mafaalani, Thomas Krüger, Yevgenia Belorusets, Danyal Bayaz und Harald Welzer. Veröffentlichungsdatum: 10. September 2024.

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Die des Westens.

Klar. Die Unternehmen im Westen haben scharenweise frische Arbeitskräfte bekommen, die bereit waren, Überstunden zu machen und sie nicht aufzuschreiben. Diese ganze Konjunktur der 90er-Jahre hat zu tun mit dem Management der Transformationszeit. Und das ist eben zulasten der Ostdeutschen gemacht worden. Mit dem Ergebnis, dass die Leute sich als Bürger zweiter Klasse fühlen.

Heute gibt es ordentliche Infrastruktur, gute Perspektiven, viele Arbeitsplätze, auch durch die Dekarbonisierung. Das ist doch nicht nichts?

Das hat aber an der mentalen Verfasstheit nichts geändert. Die Westdeutschen sind über Wohlstand sozialisiert worden, die Ostdeutschen über Transformation. Deshalb haben die eine skeptischere Grundhaltung gegenüber Demokratie.

Die einen Ostler sind dann auch Westler geworden und die anderen sind Antiwestler geworden, kann man das so sagen?

Es gibt ein interessantes Phänomen, das Mau auch beschreibt und das man bis hin zu Angela Merkel beobachten kann: Ostdeutsche, die in den Westen gingen und sich in den westlichen Institutionen „brandeten“, hatten in den ersten zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer eine Kulturtechnik des Sich-Unsichtbarmachens. Bloß nicht auffallen, bloß nicht als Ostdeutsche oder Ostdeutscher identifiziert werden, bloß keine ostdeutsche Partikularpolitik machen. Merkel hat diese ganze Geschichte ja immer verweigert. Und jetzt erst ändert sich das langsam. Ich war neulich beim literarischen Salon von Ekke Maaß im Prenzlauer Berg bei einer Veranstaltung zum 100. Geburtstag des georgischen Liedermachers und Poeten Bulat Okudschawa. Biermann war da, alle waren sie da. Und wer sitzt da auch?

Wenn Sie so fragen: Merkel?

Na klar, dafür ließ sie sogar die Eröffnung des CDU-Parteitags sausen.

Ist das nicht auch eine Diktaturerfahrung? Man lebt einigermaßen gut in einer Diktatur, wenn man sich unsichtbar macht.

Der Historiker Martin Sabrow unterscheidet zwischen drei Formen von ostdeutscher Inszenierung. Das eine ist das bürgerrechtliche Narrativ, das sind übrigens die Wenigsten. Das andere ist das Aufbaunarrativ, also die Systemträger, die vorgaben, ein besseres Deutschland zu errichten, und drittens sind da diejenigen, die versucht haben, das richtige Leben im Falschen zu führen. Und in dieser Klientel hat sich nach dem Unsichtbarmachen jetzt eine Haltung entwickelt, die man beschreiben kann mit: Jetzt sind wir mal dran. Und die suchen sich jetzt Plattformen, über die sie Sichtbarkeit herstellen.

Ah. Das ist gut.

Die AfD ist absurderweise zu einer solchen Plattform geworden, obwohl sie bis auf den Malermeister aus Görlitz die Westlichste aller Parteien ist. Vielleicht hat Karl Marx ja recht, dass auf die Tragödie (der Transformation) stets die Farce (der AfD) folgt. Was mir Hoffnung macht: Junge Ostdeutsche, die studieren und in der Welt unterwegs sind, sagen: Mit dem Scheiß haben wir nichts mehr zu tun. Deshalb glaube ich – ich bin ja Strukturoptimist –, die derzeitige Phase ist die späte Antwort auf diese Transformationszeit der frühen 90er-Jahre. Und danach wird es entspannter zugehen.

Allerdings gibt es ja nicht nur den speziellen Kontext des deutschen Ostens, sondern einen globalen Aufstieg des Rechtspopulismus und dieser antiliberaldemokratischen Bewegung. Wo ist der Zusammenhang?

Der Zusammenhang ist der Kapitalismus.

Och nö.

Echt! So weit ist es gekommen, dass selbst linke Journalisten und Wissenschaftler nicht mehr an Kapitalismuskritik glauben. Im Ernst: Das hat schon was mit Kapitalismus und mit Globalisierung zu tun. Der Globalisierungsaspekt hat keinen linken Mehrwert mehr, die Globalisierungskritik ist durch die globalen Rechtspopulisten gekapert worden.

Warum gibt der Kapitalismus den Rechtspopulisten Auftrieb?

Das hat ganz klar mit der neoliberalen kapitalistischen Logik von Ökonomisierung und Kulturalisierung aller Lebensbereiche und dem Rückzug des Staates zu tun. Aber auch mit der Diversifizierung von Gesellschaften in Europa durch die gesellschaftlich umstrittene Migration. Aber die Frage, die sich eigentlich stellt: Braucht der Kapitalismus überhaupt noch Demokratie? China führt uns jeden Tag das Dementi vor Augen. Diese Botschaft kommt in den westlichen Gesellschaften an, auch mit dem Ergebnis, dass nicht-demokratische Verfahren an Konjunktur gewinnen.

Was die Drahtzieher oder Strippenzieher wollen: Ist das Faschismus oder was ist das?

Der Überbau dieser ganzen rechtspopulistischen, rechtsextremen Verschiebung hat mit Faschisten zu tun, die über Jahre auf Konjunktur gewartet haben. Der Unterschied zu anderen Ländern – zum Beispiel wieder Frankreich – ist diese starke extremistische Haltung. Für die Vernetzung der europäischen Rechten ist die AfD nicht satisfaktionsfähig. Zu unberechenbar, zu sehr Bewegung und nicht Partei. Die Zukunft der AfD hängt davon ab, ob sie sich selbst mäßigt. Und das glaube ich nicht. Weil die Strippenzieher im Grunde Faschisten sind.