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Thomas Albert über alte Musik"Plötzlich ist die Renaissance nicht mehr fern"

Thomas Albert, Chef des Bremer Musikfestes, erklärt, warum historische Aufführungspraxis so faszinierend ist.

Findet den Begriff "alte Musik" gar nicht mehr so gut: Thomas Albert. Bild: Frank Thomas Koch
Interview von Petra Schellen

taz: Herr Albert, wird klassische Musik erst durch historische Aufführungspraxis schön?

Thomas Albert: Ich finde schon. Das liegt vor allem daran, dass diese Art des Musizierens neue Klangschattierungen bietet - nicht nur wegen der Renaissance- und Barock-Instrumente wie Gambe, Laute, Traversflöte, die ohnehin anders klingen als Zeitgenössisches. Teil des Faszinosums ist auch, dass sie "mitteltönig" gestimmt sind. Das ist eine Frequenz, die wir als besonders "rein" und harmonisch wahrnehmen.

Bemerkt der heutige Durchschnittsbürger das wirklich?

Wenn mich Studenten das fragen, sage ich: Wir stimmen jetzt mal unser Streichquartett auf diese Art durch. Das Phänomen ist: Wenn Sie das einmal gemacht haben, werden Sie es nicht wieder los. Sie entwickeln ein Gefühl dafür, ob die Akkorde stimmig klingen. Das ist Psychologie oder was auch immer. Man hört sich ganz schnell ein und ist dann positiv vorgeprägt.

Auch die Zuhörer?

Ja, und zwar ohne belehrenden Zeigefinger, sondern durch das Tun. Wir spielen etwas und sagen eben nicht: Hör da jetzt mal besonders hin! Sondern wir lassen die Musik wirken. Mit dem Ergebnis, dass die Leute hinterher sagen, das klingt anders. Und beim dritten Mal fragen sie, was ist da anders? Dann können wir sagen: Es könnte an der Klangfarbe liegen. Aber wir geben nur Hinweise. Wir sagen nicht, dass das ein musikalisch-mathematisches Gesetz ist. Denn die Vermittlung eines qualitativen Wertes geht viel subtiler vor sich. Und die Suggestion dieser Intonationsmethode ist so stark, da kommt keiner mehr raus.

Wie sind Sie hineingekommen?

Unter anderem durch Nikolaus Harnoncourt, einen der Begründer der historischen Aufführungspraxis. Als ich ihn erstmals ein Stück von Bach auf historischen Instrumenten spielen hörte, war das ein echtes Schlüsselerlebnis. Das waren Klangfarben, die alles in den Schatten stellten.

Worin genau bestand das Faszinosum?

In der Summe: dem Wissen um Klangfarben und Tempi aus der jeweiligen Zeit. Denn das ist ja keine Geheimniskrämerei, sondern historische Aufführungspraxis bedeutet zunächst Wissen um handwerkliche Dinge. Natürlich kommen auch emotionale Erlebnisse dazu. Ein solches hatte ich durch Sigiswald Kuijken, meinen späteren Lehrer. Als er seine Geige aus dem 17. Jahrhundert stimmte und dabei so über die Saiten strich, als ob bei einem Sänger der Atem strömte: Das hat mich tief berührt. Da dachte ich: Hier bin ich an der Quelle aller Musik angekommen.

Bedeutet historische Aufführungspraxis für Sie Demut?

Das Wort ist mir zu groß. Es gibt viele Leute, die etwa vor Bachs Musik demütig in Ehrfurcht erstarren. Sie betrachten diese Musik als Monument, das sie anbeten. Aber das ist ja eine Erstarrung, denn sie interessieren sich nicht für inhaltliche, fachliche, aufführungspraktische Fragen.

Erstarren nur die Zuhörer?

Nein, das kann auch Musiker betreffen. Deshalb sind die Aufführungspraktiker mit sehr ernst zu nehmenden Musikern in einen kranken Konflikt geraten. Krank insofern, als sie nicht auf derselben Ebene diskutieren. Denn die Anbetungsebene fehlt den Leuten, die sich für historische Aufführungspraxis interessieren. Dabei erfassen sie die Tiefe eines Werks fast noch intensiver. Denn wer sich über ein größeres Spektrum an Klangfarben Gedanken macht, hat ganz andere Möglichkeiten der Kontraste und geht anders an die Tiefe und Spiritualität eines Musikstücks heran als der Ehrfürchtige. Die historische Aufführung geht auf eine verstandene, aufgeklärte Weise an ein Werk heran. Und für mich ist das die aktuellste Form im Umgang mit historischer Musik.

Thomas Albert

59, Violinist, gründete 1986 die Akademie für Alte Musik in Bremen, 1989 das dortige Musikfest. Lehrt seit 1989 in Bremen Barockvioline.

Kann es aber die "objektiv richtige" historische Aufführung geben? Ohne jeden Hauch individueller Interpretation?

Die Interpretation ist selbstverständlich noch da. Wir reden nicht über Prozente, aber die ist doch da. Jeder spielt ein Stück anders, das ist doch klar. Voraussetzung ist aber, dass ich um die Parameter weiß, die es gab: Welches waren die Bausteine? Wenn ich das weiß, kann ich damit umgehen - natürlich mit meinem heutigen Atem und Rhythmus. Wir rennen schneller, wir reden schneller, wir sprechen anders, weil wir eine andere Zeit haben.

Gehen wir mal in die Bremer Sozialbehörde des Jahres 2006. Da haben Sie mit Musik um staatliches Geld für Ihre Akademie für Alte Musik geworben.

Ja, das war irre! Ich hatte natürlich vorher Verbindungen geknüpft, hatte schon Räume in einer alten Schule besichtigt, hatte ein eigenes Ensemble. Aber wir hatten keinen Cent. Das Wort "Sponsor" gabs nicht, und der Bremer Kulturhaushalt gab es nicht her. Da hörte ich, dass es beim Sozialsenator Förderprogramme für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gab. Denn ich brauchte ja Personal. Und um das letztlich durchzupauken, bin ich in den 11. Stock des Bremer Hochhauses, wo die Sozialbehörde, die Geige unterm Arm, und habe was vorgespielt.

Einfach auf dem Gang?

Nein, ich bin zu der zuständigen Sachbearbeiterin gegangen, und als sie fragte, was an Alter Musik anders sei, hab ich vorgespielt. Während ich spielte, gingen in diesem langen Gang die Türen auf, und alle kamen und lauschten. Am Ende sagte die Sachbearbeiterin, Sie bekommen das.

Würden Sie heute auf dieselbe Art Geld akquirieren?

Ja, natürlich.

Haben Sie schon?

Nein, im Moment ist es nicht nötig. Aber ich würde es immer wieder tun. Denn wenn man für etwas brennt, hat es keinen Sinn, berechnend zu sein, sondern dann muss man so sein, wie man ist. Und sagen: Ich liebe das. Lieben Sie das vielleicht auch? Folgen Sie auch diesem Weg?

Wer folgt Ihrem Weg? Ihr Bremer Musikfest gilt einigen als großbürgerlich-elitäres Event...

... aber zu kleinbürgerlichen Preisen!

Aber auf welche Hörer zielt das Programm?

Sie können jetzt natürlich überspitzen und sagen: Vom Programm her ist das für eine bestimmte Schicht gedacht. Dagegen verwahre ich mich! Wir sind komplett offen- allein über die Preise. Seit Jahren können zum Beispiel Schüler und Studenten zwischen 6 und 22 Jahren für 5 oder 10 Euro ins Konzert.

Wie gut werden diese Günstig-Karten genutzt?

Ich weiß es nicht genau. Ich beobachte aber, dass in den Schulen, die ja von solchen Programmen profitieren könnten, oft die Lehrer als erstes sagen, dann muss ich 3 Stunden mehr Dienst tun. Andererseits frage ich mich, warum kann man Schulen in so genannten Problemstadtteilen nicht verpflichten, solche Angebote anzunehmen?

Sprechen wir über das Programm des diesjährigen Musikfestes: Warum besteht es nicht zu 100 Prozent aus Alter Musik, die Ihnen so am Herzen liegt?

Weil jede Musik, die nicht aktuell ist, als Alte Musik gelten kann.

Der Komponist muss gestorben sein, und das genügt?

Nein, er kann ja wunderbar leben und vor 50 Jahren schon Klassiker geschrieben haben. Aber grundsätzlich finde ich die Begriffe "Alte Musik" und "Neue Musik" falsch. Alte Musik ist die, die nicht aktuell heute entsteht. Ich will da keine Schubladen. Denn was ist letztlich "neu"? Wenn wir heute einen Monteverdi aufführen - mit Renaissance- Zink, Laute und Orgel: Dann hören Sie einen Monteverdi, wie Sie ihn noch nie gehört haben. Und die Leute gehen später raus und sagen: Ich habe etwas ganz Aktuelles, Frisches erlebt. In solchen Momenten ist Alte Musik ganz aktuell. Da spüren Sie, das 10 Generationen nichts sind: Die haben ihren Gulasch ganz ähnlich gekocht wie wir, um es mal platt zu sagen. Und ich glaube, diese Nähe funktioniert aufgrund der Information - der wissenden Musiker.

Gibt es eigentlich eine Sehnsucht des Menschen nach dem archaischen Klang?

Ich kann es mir gut vorstellen. Ich glaube, dass viele Dinge in uns sind - durch unsere Geschichte, durch Gene und anderes. Dass viel gewachsen ist, von dem wir nicht wissen, wo es herkommt. Wo wir uns persönlich berührt fühlen und eine Vertrautheit empfinden. Wo der Mensch spürt: Ich bin gemeint. Das können Sie nicht in Worte fassen. Aber das gibt es.

Ist Musizieren für Sie eine Art Gottesdienst?

Ja.

Wie heißt der zugehörige Gott?

Das frgaen Sie mich jetzt nicht! Das ist genau der Punkt, an dem das Nachfragen an Grenzen stößt. Ich kann nur eins sagen: die Grenze zur besonderen Erfahrung von Musik wird überschritten, wenn Sprachlosigkeit eintritt. Das kann passieren, wenn Sie die spätgotische Orgel in Rysum bei Emden röhren hören oder wenn ein guter Akkordeonist in Hamburgs Alsterarkaden spielt. Oder bei einem Auftritt von Robbie Williams.

Musikfest Bremen: 24.8. bis 14.9.2013

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