„They call me Johnny Guitar“

Früh dem Blues verfallen: Johnny Winter im Tempodrom  ■ Von Matti Lieske

Mit dem Johnny Ringo aus Nicholas Rays legendärem Western „Johnny Guitar“ und dessen lagerfeuerhaften, mit Schießwut garnierten Schmalzgedudel hat die weißhaarige Klappergestalt, die auf der Bühne des Tempodrom steht, wahrhaftig nicht das Mindeste zu tun. „They call me Johnny Guitar“ krächzt der Mann nichtsdestotrotz mit einer Stimme, die sogar der Zeltplane eine Gänsehaut verursacht, und ein vielstimmiger Jubelchor aus dem Auditorium läßt keinen Zweifel daran, daß selten ein Ehrenname wohlverdienter war.

Johnny Guitar heißt in Wahrheit John Dawson Winter, absolviert derzeit sein 50. Lebensjahr und sieht noch genauso tot aus wie vor 31 Jahren, als er in Chicago mutig in ein Konzert seines Idols B. B. King schritt und den Meister keck fragte, ob er nicht ein bißchen mitspielen dürfe. Nach einigem Überlegen und dem Vorzeigen der Gewerkschaftskarte gewährte der King die gewünschte Bühnenaudienz, Winter spielte ihn zum Dank fast an die Wand, brachte den Klub mit Namen „The Raven“ zum Kochen und hatte fortan einen Fan gewonnen.

Der Jüngling aus Beaumont, Texas, war früh dem Blues verfallen und kannte jedes Stück aus dem Repertoire von B. B. King, obwohl diese Art Musik im Texas der 50er Jahre nicht gerade en vogue war: „Jeder dachte, ich bin verrückt. Niemand wollte dieses Zeug hören, ich schämte mich fast, es zu spielen. Ich machte immer die Tür zu.“ Auch Johnny Winter selbst war nicht en vogue. Den Weißen war er zu weiß, sie verabscheuten ihn, also ging er zu denen, die den Weißen zu schwarz waren, und lernte, ihre Musik zu spielen. Der Blues war seine Welt, und auch das Genörgel seines Bruders Edgar, dem diese Art der Tonerzeugung viel zu simpel war, konnte ihn nicht beirren: „Von mir aus. Aber ich fühle mich wohl dabei.“

Als er 1968 den Durchbruch schaffte, verfügte er über eine rauhe, eindringliche Blues-Stimme und ein Gitarrenspiel, daß die Kritiker zu Begeisterungsstürmen hinriß. „Ein 130 Pfund schwerer schielender Albino“, staunte Rolling Stone, „mit langem, strähnigen Haar, der die flüssigste Bluesgitarre spielt, die man je gehört hat.“ Wie ein tollwütiger Derwisch pflegte der weißeste aller weißen Bluesmusiker damals über die Bühne zu hetzen, seine Mähne in alle Richtungen zu schleudern und dabei wundersam geniale Tonfolgen abzusondern.

Das tut Johnny Guitar, abgesehen von den Tonfolgen, heute nicht mehr. Seine ohnehin karge Bühnenshow ist noch minimalistischer geworden. Sparsam in den Hüften schwingend, steht er vor dem Mikrofon. Der Kopf mit der weißen, zu einem hüftlangen Pferdeschwanz gebundenen Haarpracht steckt unter einem breitkrempigen schwarzen Hut, er reckt die tätowierten Arme, schaut zur Uhr, schließt die Augen, lächelt sein schmallippiges Lächeln und beginnt voll heiserer Inbrunst die Stücke seiner neuesten Platte zu singen. Hin und wieder schmettert er sein charakteristisches „Yeeaahh“ in den Saal, aber meist widmet er sich der Gitarre, die er virtuos wie eh und je beherrscht. Mit traumwandlerischer Sicherheit finden seine langen dürren Hänsel- und-Gretel-Finger den passenden Ton, und seine dynamischen, ausgedehnten Soli auf der niedlichen Winzgitarre reißen die Fans — gelichtet-lange Haare, sprießende Schnurrbärte und Bäuche — zu permanenten Begeisterungsschreien und gesteigertem Fäusteballen hin.

Das Tempo der Miniband mit Schlagzeug, Baß und Winter ist enorm, der Rhythmus rast, langsame Stücke haben Seltenheitswert, es gibt kaum eine Atempause — Bluesparforce in Reinkultur. Zwischendurch darf der rundköpfige, baskenmützige Bassist, der eher wie ein Bistrobesitzer aus Biarritz aussieht, eine wilde Version des Grateful-Dead-Stückes „Turn on your Lovelight“ zum besten geben und sich ein Saitenduell mit seinem Boß liefern, doch dann hat, nach einem kurzen Blick zur Uhr, wieder allein Johnny Winters machtvolle Gitarre das Wort.

„Mach ma 'ne Ballade, ick hab' noch 'n vollet Feuerzeug“, ruft am Ende einer, und Winter gehorcht aufs Wort. Er läßt das besinnliche „Blue Mood“ erklingen, schaut noch einmal zur Uhr, setzt gnädigerweise, während Freundin Diana am Rande der Bühne bereits ihren gleichnamigen Regiestuhl zusammenpackt, noch einen fulminanten Instrumental drauf und verabschiedet sich endgültig. Zurück bleibt ein erschöpftes, aber glückliches Publikum, das verzweifelt, doch vergeblich nach einer weiteren Zugabe schreit. Die Zeit ist endgültig um. Johnny Guitar hat seine Schuldigkeit getan.

Als Kind wollte er eigentlich lieber Klarinette lernen, aber jemand sagte ihm, daß er dann Bockszähne bekommen würde. Also stieg er auf die Gitarre um. Eine weise Entscheidung. „They call me Johnny Clarinet“ hätte wirklich saublöd geklungen.