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The Millennium Whole Earth Catalog Von Mathias Bröckers

„Wir sind wie Götter und könnten sogar gut darin werden. Doch ferngesteuerte Macht ist – über Regierungen, Big Business, formale Bildung und Kirchen – bis zu dem Punkt fortgeschritten, wo der allgemeine Schaden den Gewinn für den einzelnen übersteigt. Als Antwort auf dieses Dilemma entwickelt sich eine Ebene individueller, persönlicher Macht – die Macht der Individuen, sich selbst weiterzubilden, ihre eigene Inspiration zu finden, ihre eigene Umwelt zu gestalten und dieses Abenteuer mit jedem, der daran interessiert ist, zu teilen. Werkzeuge, die diesen Prozeß unterstützen, werden vom ,Whole Earth Catalog‘ gesucht und veröffentlicht.“ Dies schrieb Stewart Brand im Vorwort des ersten „Whole Earth Catalog“, der 1968 in San Francisco erschien. Zuvor hatte Brand zu den „Pranksters“ gehört, jener Kommune um den Schriftsteller Ken Kesey, die Anfang der 60er den Lebensstil erprobte, der später als „Counterculture“ oder Alternativkultur Epoche machte. Eine LSD-Erleuchtung auf dem Dach seines Hauses hatte bei Stewart Brand die Frage hinterlassen: „Wo bleibt das Bild von der ganzen Erde?“ – und an den folgenden Tagen stand er mit einem Pappschild und dieser Frage vor der Uni in Berkeley. Er bekam nicht nur eines der ersten Weltraumfotos des Planeten, sondern auch eine Menge Kontakte zu Leuten, die sich von der ebenso simplen wie tiefsinnigen Frage angesprochen fühlten. Ohne eine Vorstellung von der Erde als Gesamtsystem ist jede lokale Aktivität letztlich zum Scheitern verurteilt – „Global denken, lokal handeln“, vor 27 Jahren begann Stewart Brand mit dem „Whole Earth Catalog“ das heute wohlfeile Motto zu praktizieren. „Zugang zu Ideen und Werkzeugen“ wollte der Katalog den Lesern verschaffen, mit einem Kaleidoskop von Informationen, praktischen Tips, Buchhinweisen und Do-it-yourself-Anweisungen: von Gesundheit und Ernährung über ökologischen Haus- und Gartenbau bis zu Technologie und politischem Aktivismus, von Ökonomie und Selbstverwaltung über Sex und Partnerschaft bis zu Spiritualität und Drogen. Dies alles so unideologisch und undogmatisch wie nötig und so praktisch und selbsthilfedienlich wie möglich. Die Notwendigkeit, die Infos und Daten des Buchs zu aktualisieren, führte zur Gründung der Zeitschrift Co-Evolution Quarterly, die bis heute als „Whole Earth Review“ den Wellen nachgeht, die Stewart Brands einsames Pappschild im Sommer 68 ins Rollen brachte. 1971 und 1980 erschienen zwei weitere Kataloge, die als Bestseller der anzeigenfreien Zeitschrift das Überleben sicherten. Auch Anfang der 90er drohte dem alternativen Think Tank mal wieder die Finanzpleite, und so ist jetzt „The Millennium Whole Earth Catalog“ da, 400 Seiten im Atlasformat mit Tausenden „Tools and Ideas for the Twenty-First Century“: eine Mammutenzyklopädie des praktischen Utopismus. Viele der utopischen, schrägen Ideen der ersten Kataloge sind mittlerweile feste Bestandteile des Mainstreams und der Realität – und der Millennium-Ausgabe wird es ähnlich ergehen. Wenn unsere Generation ein Desaster auf diesem Planeten hinterläßt, sage niemand, wir hätten es nicht besser gewußt!

(The Millennium Whole Earth Catalog, Harper San Francisco, 30 Dollar, ISBN 0-06-251059-2)

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