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Bergsteigen in BremenThe Fool on the Hill

■ Zehnte und letzte Folge mit Happy end: Warum unser Alpinist heute ein König ist

Sie erinnern sich: Ich saß pleite auf dem Bordstein und hing bittersüßen Erinnerungen nach. Eine halbe Stunde später durchzuckte ein blitzartiger Geistesblitz mein Großhirn. Ich sah plötzlich eine Verbindung, die Verbindung Müllwagen-Müllberg. Denn dort mußten sie, wenn mich nicht alles täuschte, den Abfall endlagern. Damit war das dringend und schwelend in der Luft hängende Beförderungsproblem gelöst: Wir mußten nur die Ausrüstung und uns selbst in Mülltonnen stopfen, dann würden wir direkt zum Müllberg chauffiert. Sofort weckte ich Hund und Bergführer.

„Jo sog amoi, wos reischtn du mi außm Schlof mittn in da Nocht?“, frug mein Bergführer. Er kam nämlich aus Bayern und hieß nicht Lllltsch oder Hllgllstch, sondern so ähnlich: Sepp. Um mich besser mit ihm verständigen zu können, sprach ich ebenfalls bayrisch: „Du Sepp, I hob da grad a griabige Idee ghabt. Wemma in Müllwogn eini springa, bringts us direkt an Berg aufi!“ Da sogt der Sepp: „Jo Herrschoftszeitn, inn Aschnwagn eini springa, bischt bled?“ „Ah na, bled bin i net“, hob i gsagt, „un jetzat kimmts halt her und dann gehmer hoam, mir hoin die Ausrüstung.“

Gsagt, doa. Mir ham des Graffl gholt un in de Mistküabel eini gstopft. Dann san der Sepp und die Lessi und i in die Küabel eini gstiegn. Die warn oi mitnand leer. Do hammer a Woch gwart daß da Aschnwagn kimmt. De Leit ham uns eanan Dreck aufd Birn aufi gschütt, die Sauhund. Dann is der Aschnwagn kemma. I spüa wia de Küabe si bwegt. Dann bini in Aschnwagn eini gfalln. Do hob i an Sepp und de Lessi und des Graffl troffn. Jo mei, wor des a Gstank! Un imma hams neuen Müll zu uns eini gschmissn. Do samma durchd Gegnd gfahrn. Nach a paa Stund merk i, wias aufi geht. Un plötzli gspüa i, wia da Bodn si bwegt. Do samma außi gfalln außm Aschnwagn. Das hat so gescheppert, daß ich vor Schreck aufgehört habe, bayrisch zu denken; wir purzelten fast den gesamten Müllberg hinab. Zum Glück hatten wir unsere Knochen vorsorglich durchnumeriert. Und nun ein Schmankerl für den Literaturwissenschaftler: Nach unserer Dekonstruktion rekonstruierten wir uns sogleich wieder.

Nunmehr galt es, die Ausrüstung zusammenzuklauben. Wir brauchten 16 Stunden, bis wir die Ausrüstung beisammen hatten. Das macht bei 350 Kilogramm Ausrüstung exakt 0,3645833 Kilogramm pro Minute. Bei manchen Gegenständen, das muß ich zugeben, waren wir auch nicht ganz sicher, ob es sich um Müll oder um Ausrüstung handelte; später wurde die Unterscheidbarkeit vor allem durch die hereinbrechende Dunkelheit beeinträchtigt. „Du, wollst ind Nocht aufi?“ fragte mich mein Bergführer. „Jo mei“, erwiderte ich, „de Berg ruaft hoalt, des packn mer scho.“ Und mit diesen Worten machten wir uns an den beschwerlichen Aufstieg. Schnell mußten wir merken, daß einige Ausrüstungsgegenstände beim Klettern eher hinderlich waren, im besonderen das FeathercraftTM-K2-Faltboot, das, anders als die ersten beiden Silben seines Namens evozieren wollen, satte 39 Kilogramm wiegt (ohne Steueranlage, Lenzpumpe und Paddel) – und auch wenn es faltbar war, ließ es sich dennoch nicht auf Hosentaschengröße zusammenlegen; ansonsten wäre es ein Taschenboot gewesen und kein Faltboot.

Wir kraxelten und kraxelten, entschieden uns gegen allen gesunden Menschenverstand und für die steile, mörderische Nordwand. Das war ein Keuchen und ein Prusten, ein Husten und ein Ächzen. „I kann nimmer“, rief der Sepp irgendwann. Er trug die gesamte Ausrüstung. Lassie jaulte. Sie trug nur zwei Bierkästen in ihrem Hunderucksack, links eine Kiste Hemelinger Spezial und rechts eine Kiste Haake Beck Urbock (was ein und dieselbe Plörre ist – aber da das Auge auch mittrinkt, hatten wir uns für De-signdiversifikation entschieden). „Weicheier“, rief ich, „wir haben's gleich geschafft!“ Das merkte ich daran, daß die Luft dünner wurde. Und wirklich, wenige Schritte noch, fünf, vier, drei, zwei eins – – – dann standen wir gemeinsam auf dem Gipfel.

Die Sonne ging auf, wir blinzelten gen Osten und sahen, wie das Rot den Himmel emporkroch und sich wie Farbe auf einem nassen Aquarellblock verteilte. Whitney Houston tanzte auf einem Sonnenstrahl und sang „One Moment in Time“. Der Sound war besser als auf CD, vermutlich Dolby Digital Surround oder THX. Mit tränennassen Augen entrollte ich die Gipfelflagge und steckte sie feierlich in die Trommel einer umherliegenden Waschmaschine. Dann machten wir drei Bier auf, setzten uns in den Schnee und prosteten Whitney und der fetten alten Sonne zu, die beide nur für uns zu singen und zu scheinen schienen schönen. Das Thema bei Ilona Christen heute morgen war: „Der 6. Sinn – ich habe ihm vertraut“.

Tim Ingold

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