Terry Eagleton über das Böse: "Das Böse ist eine Art virtuelles Leben"
Ein Gespräch mit dem Literaturtheoretiker Terry Eagleton über sein neues Buch "Das Böse" und die Renaissance des Marxismus.
taz: Herr Eagleton, warum schreibt ein Marxist ein Buch über das Böse?
Terry Eagleton: Warum nicht?
Sprechen nicht eher Moralisten denn Materialisten von dem Bösen?
Ich spreche ja nicht von dem Bösen als etwas Metaphysischem. Und ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Marx und Moral. Marxismus ist eine Form von Moral, eine der besten Formen, die nach moralischen Werten im gesamten sozialen und politischen Zusammenhang fragt. Das, was ich Moralismus nennen würde, tut das nicht. Ich schreibe über viele nichtmarxistische Themen, auch um den Diskurs zu öffnen. Ich liebe es, über altmodische, unpopuläre Dinge zu schreiben, Marx selbst eingeschlossen. Marx und das Böse, die sind beide aus der Mode gekommen.
Aber Marx ist wieder schwer in Mode, das bürgerliche Feuilleton hat gar eine Marx-Renaissance ausgerufen.
Okay, er war lange Zeit unmodern. Nun ist er wieder modern wegen der Finanzkrise.
TERRY EAGLETON, geb. 1943, ist Professor für Kulturtheorie an der Lancaster University sowie Professor für englische Literatur an der National University of Ireland. Autor des Bestsellers "Der Sinn des Lebens". Gerade erschien von ihm: "Das Böse". Ullstein Verlag, Berlin 2011, 208 Seiten, 18 Euro.
Was kann Marx da ausrichten?
Das beste Zeichen für die Krise des Kapitalismus ist, wenn über ihn gesprochen wird. Ist er nicht in der Krise, sprechen die Menschen nicht von Kapitalismus, sondern von freier Marktwirtschaft. Während der Postmoderne wurde der Name Marx kaum erwähnt, er war nicht auf der Agenda, nun ist er es wieder.
Aus purer Verzweiflung?
Das System schien lange Zeit zu stark, um gebrochen zu werden. Man war sich nicht darüber im Klaren, wie zerbrechlich es letztlich ist. 1976 gab es viele Marxisten, 1986 kaum noch welche. Woran lag das? Glaubte nun jeder, Marx' Ideen seien doch einfach die falschen? Nein. Ich glaube, in der Linken hatte sich ein Gefühl von Ohnmacht ausgebreitet, Ohnmacht gegenüber einer sehr aggressiven kapitalistischen Formation, für die die Namen Thatcher und Reagan standen.
Nun ist man optimistischer, was Veränderung angeht?
Ich glaube nicht, dass irgendjemand glaubte, die gegenwärtige Krise würde das Ende des Kapitalismus bedeuten. Aber die Geschichte ist offen und die Gegenwart verändert sich so rasend schnell, dass ich glaube, Hoffnung ist nicht nur möglich, sondern realistisch. In der Politik geht es nicht um Optimismus oder Pessimismus, sondern um Realismus. Dieser Realismus kann in Hoffnung münden oder nicht. Ich denke, dass die Vorstellung, dass sich nie etwas zum Besseren verändern wird, absolut unrealistisch ist. Die Geschichte widerlegt diese Sichtweise auf kompletter Linie.
Fredric Jameson sagte einmal, der Mensch könne sich eher den Untergang der Welt denn das Ende des Kapitalismus vorstellen.
Es ist auch möglich, dass das Ende des Kapitalismus das Ende der Welt bedeutet. Alles kann in einem kompletten Desaster enden.
Noch mal: Kann der Mensch überhaupt noch Veränderung denken, wenn er umgekehrt das Böse doch nur noch auslagert?
Das Verblüffende ist ja, dass die Menschheit immer gedacht hat, die Apokalypse werde ihnen von außen geschickt als eine Art Schicksal, dem man sich nicht entziehen könne, ja. Aber es ist doch atemberaubend zu sehen, dass heute zum ersten Mal ernsthaft gedacht wird, dass der Mensch sich selbst auslöschen könnte, dass wir selbst das Ende erzeugen. Das ist etwas vollkommen Neues.
Das ewige philosophische Dilemma ist ja: Entweder der Mensch ist determiniert, dann kann die Rede von Gut und Böse fallen gelassen werden, weil der Mensch nicht verantwortlich ist für sein Handeln, oder der Mensch ist frei, dann ist aber unerklärlich, weshalb er sich überhaupt für das Böse entscheidet.
Das ist eigentlich eine langweilige Entgegensetzung, alles Interessante spielt sich zwischen diesen beiden Extremen ab.
Warum würde man das Böse wollen?
Weil man in dem Bösen etwas für sich findet. Eine Befriedigung findet.
Das Böse und die menschliche Freiheit bedingen sich?
Ja, die Wurzeln unserer Kreativität und unsere Zerstörungsneigung hängen miteinander zusammenhängen. Unsere Kreativität ist an der Quelle schon beeinträchtigt von diesem zerstörerischen Hang. Es gibt bestimmte romantische Theorien, wonach das einander völlig entgegengesetzt sei, aber in der Moderne kann man doch in der Nachfolge Sigmund Freuds sagen, dass die beiden, Kreativität und Destruktivität, miteinander verknüpft sind. Aus diesem Grund ist auch die Lehre vom Sündenfall so wichtig und als glückbringende Schuld zu sehen, als ein Fall nach oben, der uns zugleich auch alles das bringt, was eben Geschichte, Freiheit, Zivilisation, Sprache ausmacht. Hunde können einander nicht mit Messern töten, sie können aber auch keine chirurgischen Operationen vollführen. Sie können keine Nuklearwaffen entwickeln, sie können aber auch keine Symphonien schreiben.
Nehmen Sie Adrian Leverkühn, den Helden aus Thomas Manns "Doktor Faustus": Er ist ein zutiefst zerstörerischer, nihilistischer, ja zynischer Mensch. Er glaubt nicht einmal an die Bedeutsamkeit des Menschen selbst. Gleichzeitig ist er ein Genie. Thomas Mann hat erkannt, dass diese beiden Dinge sehr eng miteinander verbunden sind. Unsere Freiheit bedeutet Ruhm und Verzweiflung. Damit müssen wir irgendwie leben.
Dann ist der Mensch einfach ein Gefangener im Teufelskreis von Schuld und Begehren?
Freud kennt diesen Teufelskreis zwischen Schuld, Begehren und Gesetz. Das alles ist ineinander verschränkt. Wenn es so einfach wäre, dass das Begehren und das Gesetz einander schlechterdings entgegengesetzt wären, würde das letztlich dazu führen, dass das Begehren immer das Gesetz bricht. Aber so einfach ist es nicht. Freud und vor ihm auch Friedrich Nietzsche haben erkannt, dass das Begehren und das Gesetz einander parasitisch verschwistert sind. Die leben voneinander, denn das Begehren begehrt ja auch, dass wir durch das Gesetz bestraft werden, um uns von unserer Schuld zu befreien. Und dafür fühlen wir uns wieder schuldig und wollen dann wieder von dem Gesetz bestraft werden, sodass sich die Schlange in den Schwanz beißt.
Ein Teufelskreis - in den wir hineingestellt sind. Freud sagt, das Gesetz bzw. das Über-Ich sei sein ältester Feind. Er empfindet sogar Mitleid, mit uns allen, die gefangen sind in diesem Teufelskreis. Die Psychoanalyse ist dann ein Versuch, einen Weg hinauszufinden, damit zurechtzukommen, weniger unglücklich zu sein. Freuds größter Feind ist das Unglück. Das Gesetz ist für ihn Quelle dieses Unglücks.
Aber nicht, weil es bloß repressiv ist?
Nein, weil wir wollen, dass das Gesetz uns bestraft.
Warum ist das so?
Für Freud sind wir zutiefst masochistische Charaktere. Slavoj Zizek hat gesagt, diese Geschichte sei uralt, sie geht zurück auf den heiligen Paulus, der sagte, wir stünden unter dem Fluch des Gesetzes. Das Gesetz hat die Sünde gebracht, die Sünde bringt uns die Schuld und wir sind durch das Gesetz erst schuldfähig geworden. Jacques Lacan spricht davon, wenn er von dem Realen spricht.
Aber das Böse ist nicht die Quelle des Kreativen? Sie sagen, das Böse habe die Gleichförmigkeit von Scheiße.
Ich stimme Hannah Arendt zu, wenn sie sagt, das Böse sei banal, flach und langweilig. Das Böse ist eine Art Parodie des echten Lebens. Eine Art virtuelles Leben.
Warum?
Das Böse ist die Unfähigkeit zu echtem schöpferischen Handeln. Es schafft eine Pseudokreativität. Die beiden Quellen des Bösen und des Schöpferischen liegen nahe beieinander, sind aber nicht austauschbar. Ich teile nicht diese romantische Sicht, wonach es ohne das Dämonische keine echte Künstlerschaft gibt. Im 19. Jahrhundert glaubte man, das Böse gehöre notwendigerweise zum Schöpferischen dazu. Man musste entweder verrückt oder böse sein. Ich glaube, echte Kreativität ist der Kampf gegen die Parodie des Schöpferischen.
Es gibt ein gewisses Ungleichgewicht zwischen Gut und Böse.
Das Böse scheint abhängig von dem Geschaffenen, von der Schöpfung. Es hängt davon ab, dass vorher schon etwas ist, wozu es Nein sagen kann. Gott entsteht vor dem Teufel, der Teufel kommt immer erst hinterdrein und versucht zu zeigen, wie lächerlich das Sein ist. Es gibt ein Ungleichgewicht - das Gute ist das Bestehende, das Bestehende ist gut, heißt es bei Thomas von Aquin, allein die Tatsache, dass etwas existiert, macht es zu etwas Gutem. Das Böse leugnet den Wert des Guten.
Liebe kennen wir nur als romantische, kann man sie nicht auch als politische denken? In der politischen Theorie gibt es ja aktuell Versuche, etwa bei Toni Negri, Liebe als politischen Begriff zu verstehen.
Marx sagt im "Kommunistischen Manifest" den berühmt gewordenen Slogan, dass die freie Entwicklung des Einzelnen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist. Das, in die zwischenmenschliche Sphäre übersetzt, ist Liebe. Liebe ist die Situation, in der die Erfüllung des Einzelnen die Voraussetzung für die Erfüllung des anderen ist. Das Konzept der politischen Liebe geht auf Hegel zurück. Aber welcher Institutionen bedürfte es in der sozialen Sphäre, um das zu gewährleisten?
Sagen Sie es mir.
Nehmen wir die Genossenschaft. Was bedeutet es, wenn man einander hilft. Wenn das Erfüllen der Aufgabe, die einer hat, zugleich auch zum Vorteil des anderen ist, das ist ja wohl der Grundgedanke der Genossenschaft, wie ihn auch Marx entwickelt hat. Die wechselseitige Erfüllung ist die Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft. Ein freies Bündnis von Genossenschaften, die sich selbst regieren, das ist meiner Meinung nach politische Liebe. In diesem Sinne ist die Verengung auf die romantische oder erotische Liebe eine schreckliche Vereinfachung. Das ist in der westlichen Tradition geschehen. Gegen die christliche Tradition der Agape, die eben gerade das Gegenteil von personengebundener Liebe ist.
Sie sprechen vom Neuen Testament.
Ja, das Neue Testament ist eigentlich ein Dokument über die Liebe. Dabei ist gerade das Neue Testament außerordentlich unliebenswürdig, wenn man nämlich diese Liebe praktiziert, wird man ja bekanntlich gekreuzigt. Das Neue Testament, und das ist das Besondere und Revolutionäre daran, predigt aber auch eine unpersönliche Liebe. Das Wesentliche ist die Liebe zum Fremden.
Sie schreiben in Ihrem Buch, die Schlechtigkeit sei institutionell, nicht individuell. Heißt das zugespitzt, die kapitalistischen Institutionen sind schuld an meinem individuellen Unglück?
Vieles von dem, was an Schlechtem geschieht, ist in unseren Institutionen eingebaut oder institutionell bedingt. Was gut ist, denn damit besteht Hoffnung, dass es sich verbessern kann. Wenn alles Böse oder Schlechte aus der Dunkelheit unseres Herzens stammte, dann gäbe es keine Hoffnung, dass sich das mal bessern könnte. Aber ich spreche nicht von einer Utopie, nach der wir dann plötzlich alle zu Heiligen werden. Nein, es wird auch in einem besseren Zustand Diebe, Mörder, Unglück und Ausbeuter geben. Aber wir haben noch nicht die Fülle unserer Möglichkeiten ausgeschöpft. Wenn Marx schreibt, alle bisherige Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen, von Ausbeutung, von Knappheit, dann bedeutet das, wir haben bisher noch nicht die Möglichkeiten geschaffen, unter denen wir uns auf bessere Weise verhalten können.
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