■ Terror der Ökonomie: Den Denkern fehlt es an Kraft, Mut und Unbefangenheit für eine fundamentale Kritik des Kapitalismus: Anspruchsloses Publikum
Es gehört zum Finalsieg des Kapitalismus, daß seine Kritik nicht mehr stattfindet. Das ist bisher nur monotheistischen Religionen gelungen. Freilich haben sie nach einiger Zeit Häresien abgesondert, was der Kapitalismus einstweilen nicht zu befürchten hat. Um ihn kümmern sich mit einiger geistiger Anstrengung nur seine Apologeten – die unermüdlich auf nicht mehr anzutreffende Gegner einschlagen. Es scheint da in der Priesterkaste, bei den Ökonomen, den Wirtschaftsjournalisten und den Verbandsfunktionären, ein Rest von Unsicherheit über die Vollständigkeit des Triumphs fortzubestehen. Ein Indiz übrigens, daß das Zeitalter der Ideologien nicht zu Ende ist.
Gewiß, es gibt, seit den frühen neunziger Jahren und mit der plötzlich spürbaren Globalisierung, wieder vermehrte Kritik am Kapitalismus: an seiner Rücksichtslosigkeit, seiner Zerstörungslust und an der Wucht, mit der er soziale Ordnungen auflöst. Weniger schon an seiner Sterilität, an seiner schwindenden Neuerungskraft. Aber das sind letzten Endes, so richtig sie sein mögen, nur Beschwerden und Mäkeleien.
Eine Kritik des Kapitalismus, wie sie vor etlichen Jahrzehnten von Joseph Schumpeter und Theodor Adorno geleistet wurde, ist das alles nicht. Im Kern, in seiner Funktionslogik wie in seiner ideologischen Überzeugungsmacht scheint er heute immun zu sein. Alles Schlimme über ihn ist offensichtlich längst gesagt, und die Feststellung, daß er sich nur mit der Herstellung von kleineren oder größeren Katastrophen voranbewegen kann, läßt seine Agenten und Verteidiger kalt. Wenn, wie in diesem Jahr, acht oder neun Millionen Kleinanleger in Frankreich, Italien und Deutschland die Privatisierung ihrer nationalen Telekom-Gesellschaft nutzen, das Geld dafür vom Sparkonto oder aus dem laufenden Einkommen nehmen und nach dem kleinen Oktober-Crash bei der Stange bleiben – dann ist das ein schlagender Vertrauensbeweis, der die Angst vor der Globalisierung in Schach hält.
Da man sich auch in Europa daran gewöhnt hat, intellektuell von der Hand in den Mund zu leben, kann theoretische Kapitalismuskritik, weil notwendig langatmig, wenig Vergnügen machen. So geben sich denn auch mit fundamentalen Erklärungen des Kapitalismus keine erstklassigen Schriftsteller mehr ab. Es fehlt einfach an Kraft, Mut und Unbefangenheit. Beim herrschenden Mainstream steht es nicht besser. Ganze Heerscharen ölen das ideologische Getriebe, aber einen Laudator von Format kann der heutige Kapitalismus nicht finden. Dieses Defizit auf beiden Seiten muß wohl am Kapitalismus selbst liegen.
Es bedurfte völliger professioneller Ahnungslosigkeit, daß in diesem Jahr ein kapitalismuskritisches Pamphlet („Terror der Ökonomie“) Furore machen konnte. Die Autorin Viviane Forrester, eine betagte Kulturschriftstellerin, konnte offensichtlich die Unbefangenheit für ihre schwungvolle Kampfschrift nur aufbringen, weil sie ziemlich unbeleckt von Kenntnissen in politischer Ökonomie und Geschichte ist. In Diskussionen mit Profis wirkt sie hilflos.
Was Forrester mit großer Verve auf den ersten 40 Seiten mitteilt – danach wiederholt sie sich etwas schweratmig – ist durchweg bekannt, kein einziger neuer Gedanke taucht auf. Seit über zwei Jahrzehnten liefert zum Beispiel Le Monde Diplomatique, der auch den taz-Lesern vertraute linke Ausleger der Pariser Tageszeitung, allmonatlich ganz ähnliche Befunde, freilich viel facetten- und materialreicher. Leider in einer stets gleichbleibenden Tonlage, die sich auch durch den Epochenbruch nicht hat erschüttern lassen.
Die verbliebenen Post-Marxisten in Frankreich hat dieser Massenerfolg ratlos gelassen, und ein altgedienter Links-Republikaner wie Jacques Juillard, der Leitartikler des Nouvel Observateur, speit Gift und Galle über das Salon- Machwerk. Schwer zu erklären jedenfalls, wie das zusammengeht: Das breite Bedürfnis nach einer antikapitalistischen Protestfanfare und die Anspruchslosigkeit des Publikums, dem Viviane Forrester noch nicht einmal die Revolutionsaufrufe oder Reformideen anbieten mag. Daß da Angstgefühle und Unmut über den siegreichen Kapitalismus Hand in Hand gehen mit Unlust an einer theoretischen Perspektive, ist schließlich keine befriedigende Auskunft.
Am besten, man legt das Phänomen Forrester vorläufig als einen der moralisch-ästhetischen Parisianismen ab, als ein folgenloses Feuerwerk, wie es die Franzosen von Zeit zu Zeit brauchen. Es gibt in Frankreich wahrlich Interessanteres. Ist schon die philosophische Fundamentalkritik mit Louis Althusser seit zwei Jahrzehnten abgestorben, so gibt es dafür eine vielseitige reformistische Debatte. Sie ist zwar von einem prinzipiellen antikapitalistischen Vorbehalt getragen, aber sie nutzt dessen Energie für ertragreiche Reformvorschläge oder Spekulationen. André Gorz zum Beispiel, der unermüdlich über die möglichen Transformationen der Arbeitsgesellschaft weiterdenkt, läßt sich auf marxistischen Fundamentalismus so wenig ein wie Pierre Bourdieu. Der ist zwar ein zuverlässiger Linker, vor allem aber ist er durch und durch Soziologe – von einer Art, wie sie in Deutschland mangels einer durchwachsenen bürgerlichen Gesellschaft nicht vorzufinden ist.
Weniger bekannt ist hierzulande eine beträchtliche Autorengruppe, die sich um die Saint- Simon-Stiftung und ihren Leiter Pierre Rosanvallon schart. Mit der Erinnerung an die Saint-Simonisten, die katholischen Frühtechnokraten der nachrevolutionären Zeit, verbindet sich ein vielseitiges Gemisch von Reformisten, die zwar weiterhin auf den Staat setzen, aber der Zwangssolidarität des Einheitsstaates offenere Solidaritätsmodelle entgegensetzen. In diesem Umkreis wird am schärfsten die Kritik an der neuen Ungleichheit formuliert.
Der ziemlich ruhmlose Untergang der mit der Kommunistischen Partei Frankreichs verbundenen Intellektuellenszene und das Schwinden der Sartreschen Geistesenergien bezeichnen also nicht schon den Untergang des kapitalismuskritischen Impulses. Er trägt in Frankreich eine zähe Grundströmung, die sich, wenn auch reformistisch, immer wieder aktualisieren und politisieren läßt. Weil sich dieser Impuls mit dem Kampf um die republikanische Autonomie der Nation verbindet, wird er auch nicht so bald verschwinden. Zumindest so lange nicht, als der Welt-Kapitalismus den Stempel der amerikanischen Dominanz trägt. Deutschen Linken, die die „nationale Republik“ nicht kennen, wird das unverständlich bleiben. Claus Koch
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