Tarifrunde im öffentlichen Dienst: Angst vor Armut im Rentenalter
Acht Prozent mehr Lohn, so viel haben die Gewerkschaften seit 15 Jahren nicht gefordert. Doch es geht ihnen um das Selbstwertgefühl der unteren Mittelschicht.
Drei Faktoren haben in vergangenen Jahren enorm dazu beigetragen, dass bei den Lohnabhängigen immer weniger ankommt.
Dazu gehört der Druck zur privaten Altersvorsorge. Nach Ergebnissen einer Studie des Sozialverbandes Deutschland muss ein Durchschnittsverdiener, der im Jahre 2030 in seine gesetzliche Rente geht, rund 37 Beitragsjahre aufweisen, um ein Ruhegeld zu erzielen, das knapp über dem heutigen Hartz-IV-Niveau liegt. Wer im Alter nicht am Existenzminimum leben will, muss also privat sparen. Und das kann nur, wer durch Erwerbstätigkeit ausreichend verdient.
Ein anderer Faktor, der laut Statistischem Bundesamt die Kosten für den Lebensunterhalt in die Höhe treibt, sind die Gesundheitsausgaben. Auch für die nächsten Jahre werden höhere Krankenkassenbeiträge vorausgesagt. Brillen, Zahnersatz, Praxisgebühr - die gesetzliche Versorgung muss zunehmend durch private Zahlungen ergänzt werden. Auch wer neuere medizinische Maßnahmen in Anspruch nimmt, muss häufig drauf zahlen.
Der dritte Faktor, der die Privathaushalte mehr und mehr belastet, sind die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise. Denn Heizöl oder Butter sind Güter, die nicht ohne weiteres eingespart werden können. Ende vergangenen Jahres kletterten die Preise für Mineralölprodukte, aber ebenso für Butter und Milch sprunghaft in die Höhe. Für dieses Jahr sagt die Europäische Zentralbank eine Inflation in Höhe von zwei Prozent voraus. Damit die lohnabhängig Beschäftigten Geld zurücklegen können, müssten die Löhne um deutlich mehr als zwei Prozent steigen
Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst ist dieses Mal mehr als das übliche Getöse der Gewerkschaften um ein paar Euro mehr oder weniger für Erzieherinnen, Müllfahrer oder Büroangestellte. So viel wie in dieser Tarifrunde - nämlich acht Prozent - haben die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst seit 15 Jahren nicht mehr gefordert. Das allein zeigt, dass Ver.di darauf vertrauen kann, dass sich in der öffentlichen Meinung die Maßstäbe für Gerechtigkeit verschoben haben.
"Die Lohnquote ist auf einem historisch niedrigen Niveau, während die Gewinnquote sehr hoch ist. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmer mehr teilhaben müssen", räumte am Donnerstag selbst Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) in einem Interview mit der ARD ein. Zum Auftakt der Tarifverhandlungen am Donnerstag in Potsdam bekräftigten die Gewerkschaft Ver.di und der Deutsche Beamtenbund ihre Forderung nach acht Prozent mehr Lohn für die 1,3 Millionen Arbeitnehmer bei Bund und Gemeinden.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund bezeichnete die Gewerkschaftsforderung wie erwartet als "völlig überzogen". Ein hoher Tarifabschluss würde den Druck zum Personalabbau verstärken, sagte Gerd Landsberg, der Geschäftsführer des Städtebundes. Viele Städte sehen sich nicht dazu in der Lage, eine Lohnerhöhung in dieser Größenordnung zu bezahlen. Stattdessen fordern die Kommunen eine Verlängerung der Arbeitszeiten.
Dabei sind in den vergangenen Jahren, ungeachtet der zum Teil erheblichen regionalen Unterschiede, die Steuereinnahmen deutlich gestiegen. Die veröffentlichten Gehälter der Höchstverdiener in der Privatwirtschaft sind zudem eine Referenzgröße, angesichts derer es als Skandal empfunden wird, wenn etwa Altenpflegehelferinnen nur etwas über sieben Euro brutto die Stunde bekommen.
Das Gefühl von Ungerechtigkeit wird verstärkt durch die Tatsache, dass Beschäftigte mit einem Monatseinkommen von 1.400 Euro netto nach den neuen Rentenreformen schnurstracks auf die Altersarmut zusteuern. Sie bekommen damit am Ende eines Arbeitslebens genauso viel wie Langzeitarbeitslose. Denn diese erhalten mit 65 Jahren die sogenannte Grundsicherung im Alter, die auf Höhe von Hartz IV liegt. Wenn aber kein Unterschied mehr zwischen den erwerbstätigen unteren Mittelschichten und den Hartz-IV-Empfängern zu spüren ist, befeuert dies jede Menge Ressentiments. Genau deswegen ist die Tarifrunde im öffentlichen Dienst auch ein Kampf um Distinktion der Mittelschicht.
Dabei geht es nicht nur um die gegenwärtige Lebenslage, sondern auch die künftige. Nur wer ausreichend verdient, kann fürs Alter Geld sparen und die von den Politikern oft beschworene private Vorsorge betreiben. Die Frage des Einkommens wird damit zu einer Frage der Würdigung der Lebensleistung.
Eine entscheidende Gerechtigkeitsfrage in der Zukunft wird sein, ob man geringe Renten aus Erwerbstätigkeit, die unter dem Niveau von Hartz IV liegen, nicht aus Steuermitteln etwas aufstockt, ohne dass das Sparguthaben vorher aufgebraucht werden muss. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup hat dazu bereits einen Vorschlag gemacht.
"Wir werden mit Nachdruck verhandeln", sagte der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske am Donnerstag. Eine deutliche Erhöhung der Einkommen im öffentlichen Dienst seit nötig, um mehrere Jahre des Rückgangs der Reallöhne auszugleichen. Die Gewerkschaft fordert acht Prozent, zumindest aber einen Zuwachs von 200 Euro monatlich für die Beschäftigten. Solche Festbeiträge würden die Einkommen der unteren Verdienstgruppen überproportional steigern.
Ver.di will, dass das Ergebnis der Tarifrunde für die Arbeiter und Angestellten bei Bund und Kommunen ein Jahr lang gelten und auch für die Beamten übernommen werden soll. Nicht verhandelt wird aber über die Beschäftigten der Länder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!