„Tarifautonomie und Flächentarifverträge“, lautet das Motto einer Konferenz der IG Metall, die heute in Darmstadt zu Ende geht. Hauptgegenstand der Tagung: Die immer häufiger praktizierte, stillschweigende Abweichung vom Tarifvertrag in wirtschaftlich notleidenden Betrieben und wie die Gewerkschaft darauf in Zukunft reagieren will Aus Darmstadt Walter Jakobs

Ein neuer Katechismus

Für Ernst Claus aus Schweinfurt lautet „die Hauptfrage“ schlicht so: „Es geht doch darum, ob wir glauben, den Tarifvertrag dadurch halten zu können, indem wir ihn verbilligen.“ Für die Erosion des Flächentarifvertrages, so gestern seine Bilanz auf der dreitägigen tarifpolitischen Tagung der IG Metall in Darmstadt, „sind wir selbst auch mitverantwortlich“, denn es habe in der Vergangenheit oft an der Entschlossenheit gemangelt, das Erreichte auch zu verteidigen. Auch sei „die Klarheit etwas verlorengegangen“, weil wir häufig „nicht mit einer Zunge reden. Auch unsere Oberen nicht.“ Im übrigen, so Claus weiter, „reden wir zuviel über Tarifflucht und unsere Mißerfolge und zuwenig über die Betriebe, in denen es uns gelungen ist, Angriffe abzuwehren“.

Gegen eine Propagierung von Erfolgen hat der zweite Vorsitzende der IG Metall, Walter Riester, ganz gewiß nichts. Aber, so hält er Claus später vor, die „Grundproblematik, vor der wir stehen, werden wir damit nicht lösen können“. Und diese „Grundproblematik“ sieht für die IG Metall düster aus. Innerhalb von zehn Jahren ist die Tarifbindung um 10 Prozent auf rund 80 Prozent geschrumpft. Das ist zwar immer noch ein beachtlicher Teil, doch durch den allgemeinen Schwund der Normalarbeitsverhältnisse — seit 1970 fiel der Anteil dieser Beschäftigungsverhältnisse an der Gesamtbeschäftigung von über 90 auf 68 Prozent ab — und die hohe Arbeitslosigkeit kommt die IG Metall, wie alle Gewerkschaften, zusätzlich unter Druck.

Beteiligt sind an der Tarifflucht beileibe nicht nur die Kleinen und die Außenseiter der Branche. Auch gut verdienende Weltkonzerne mischen dabei in Deutschland kräftig mit. Etwa der Siemens-Konzern, der, so die Hamburger Betriebsratsvorsitzende Birgit Steinbauer, durch „Ausgliederung von Betriebsteilen“ Tarifflucht betreibe und durch „Einzelverträge“ mit den Beschäftigten die Standards unterlaufe. Als Gegenmaßnahme empfahl Steinbauer der eigenen Organisation, künftig in solchen Fällen auf betrieblicher Ebene „Zusatztarifverträge“ durchzusetzen.

Auf welchen Weg sich die IG Metall begeben wird, steht dahin. Die endgültige Festlegung trifft der Bundesvorstand, der die Diskussionen in Darmstadt als eine Art Entscheidungshilfe ansieht. Schon bald sollen dann Verhandlungen mit den Arbeitgebern folgen. Riester selbst hält von Zusatztarifverträgen nicht viel, weil er darin ein Konzept sieht, das nur für gewerkschaftlich gut organisierte Betriebe funktionieren könne. In der Vergangenheit seien ja gerade die Beschäftigten in kleineren und schlecht organisierten Betrieben auf die Vorreiterrolle von großen Betrieben bei der Durchsetzung von allgemein gültigen Flächentarifverträgen angewiesen gewesen. Deshalb drohe durch Zusatztarifverträge die Gefahr, daß aus „dem Konzept der großbetrieblichen Stärke“ ein „Konzept der metallwirtschaftlichen Schwäche“ werde. Im übrigen gehe dadurch der „friedensstiftende Effekt des Flächentarifvertrages für die Arbeitgeber verloren“. Und die Frage sei, ob dieser Vertrag dann noch für „die Gegenseite, mit der Tarifverträge abgeschlossen werden müssen“, attraktiv genug bleibe.

Riester plädierte dafür, die „neue Balance zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Regelung“ mit Hilfe von „Bausteinen“ zu finden. Aus einem von den Tarifparteien ausgehandelten Set soll dann der einzelne Betrieb für sich „paßgenaue“ Lösungen auswählen — z. B. bezüglich der Lohnfindungssysteme oder zur Abwicklung von Überstunden. Auf große Begeisterung stießen diese Vorschläge gestern nicht. Viele Metaller fürchten, daß durch solche Modelle die Mindestbedingungen zusätzlich ausgehöhlt werden.

Zugleich plädierte Riester in Darmstadt dafür, die ostdeutsche Härtefallklausel auch im Westen zu praktizieren. Ihm sei eine präzise Regelung für den Umgang mit wirtschaftlich notleidenden Betrieben lieber als die stillschweigende Abweichung vom Tarifvertrag, die das System insgesamt zu unterspülen drohe. Auf die Veränderung in der Realität nur mit einem kämpferischen „Hände weg von der Reform“ zu antworten, führe in die Sackgasse. Die IG Metall müsse sich dem „tarifpolitischen Nachholbedarf“ stellen. Dabei werde sich die Gewerkschaft die von den Arbeitgebern geforderten betrieblichen Öffnungsklauseln aber gewiß „nicht andrehen“ lassen.

Während IG-Medien-Chef Detlef Hensche schon davon ausgeht, daß der Flächentarifvertrag nicht zu halten ist und sich die Gewerkschaften künftig auf „Häuserkämpfe“ von Betrieb zu Betrieb einzustellen hätten, glaubt Riester das System noch mittels Reform retten zu können. Dabei geht es dem Modernisierer darum, eine Art neuen Kathechismus für die künftige gewerkschaftliche Tarifpolitik zu entwickeln.

Ein Kurs, dem viele Betriebsräte skeptisch gegenüberstehen. So fürchtet Hasso Ehinger von Bosch in Stuttgart, daß durch die Reform künftig wichtige „Korsettstangen“ der heutigen Tarifverträge Schaden nehmen könnten. Ohne solche „Korsettstangen“ aber, da sind sich die Metaller einig, stünden die Belegschaftsvertreter den „Erpressungen im Betrieb“ noch hilfloser gegenüber. Viele glauben, daß Riester zuwenig auf die „Kampfkraft“ setzt. Doch die, so Bosch-Betriebsrat Ehinger, „ist entscheidend, denn letztlich ist alles eine Machtfrage. Da, wo sich die Arbeitgeber stark fühlen, schlagen sie zu. Wo sie es sich leisten können, werden 20 Tage Urlaub bezahlt, wo nicht, bleibt es bei 30.“