Tarek Al-Wazir über grüne Verantwortung: "Wir sind nicht größenwahnsinnig"
Der hessische Abgeordnete der Grünen, Tarek Al-Wazir, konnte den Wahlsieg im Ländle kaum glauben. Jetzt aber über einen grünen Kanzlerkandidaten zu spekulieren, lehnt er ab.
taz: Herr Al-Wazir, welche Bedeutung hat die Wahl von Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten für die Grünen?
Tarek Al-Wazir: Das ist für uns ein historischer Tag. So bedeutsam wie der Einzug in den Bundestag, der Tag der Ministerübernahme von Joschka Fischer in Hessen, der Tag der ersten Beteiligung an der rot-grünen Bundesregierung. Erstmals werden die Grünen eine Regierung führen.
Und für Sie persönlich?
Es ist das Gefühl: Kneif mich bitte mal jemand. Unser Kretsch - das ist sein Spitzname - ist Regierungschef? Wenn mir das jemand vor einem Jahr erzählt hätte, hätte ich gesagt: Was hast du denn genommen? Eine Anekdote könnte ich da erzählen ...
Bitte
Kretschmann war immer davon ausgegangen, dass er in Baden-Württemberg höchstens mal mit den Schwarzen regieren könnte ...
Tarek Al-Wazir, 40, ist seit elf Jahren Grünen-Fraktionschef im Hessischen Landtag. Seit 2006 ist der Politikwissenschaftler zudem Mitglied im 16-köpfigen Parteirat der Grünen.
... weil es mit der SPD nie reichen würde.
Vor eineinhalb Jahren standen wir bei unserem Parteitag in Rostock beim Presseempfang beieinander. Im Hintergrund lief im Fernseher dann die Nachricht: Oettinger geht aus Stuttgart nach Brüssel, Mappus wird Nachfolger. Kretschmann wurde käsebleich - und sagte immer nur: "Der Mappus, der Mappus! Mit dem kannscht net regiere!" Dass Mappus jetzt weg ist und Kretschmann Ministerpräsident, das ist eine echte Ironie der Geschichte.
Die Erwartungen an die neue Landesregierung sind so hoch wie an kaum eine andere. Muss Grün-Rot nicht daran scheitern, diese Ansprüche zu erfüllen?
Das ist Baden-Württembergs Grünen wohl bewusst, das wurde in den Koalitionsverhandlungen deutlich. Aber nehmen wir beispielsweise das Großthema Stuttgart 21: Wenn unsere Erwartung richtig ist, wird das Projekt in der bisherigen Form nicht leistungsfähig genug sein und schon an der Geldfrage scheitern - weil hohe Mehrkosten anfallen würden.
Das ist nicht die einzige Herausforderung. Grün-Rot will die Gemeinschaftsschule in einem jahrzehntelang konservativ regierten Land einführen.
Man darf sich nichts vormachen. Wir sind dort erstmals an der Regierung, die kommunale politische Landschaft ist größtenteils tiefschwarz, die CDU ist immer noch ziemlich stark. Für die Koalition geht es darum, sich auf den Weg zu machen, und dabei muss sie möglichst viele Menschen mitnehmen. Veränderungen im Bildungssystem sind dann erfolgreich, wenn man sie nicht von oben verordnet, sondern von unten wachsen lässt - das wird in Baden-Württemberg der Fall sein.
Solch ein Prozess läuft langsam ab. Ist nicht Enttäuschung der Wählerschaft programmiert?
Es wird einige geben, denen es nicht schnell genug geht. Dafür aber andere, die finden, oh, das machen die ja ganz vernünftig. Die Umfragewerte dort sind für die Grünen weiter gestiegen, auch nach den Koalitionsverhandlungen. Ich glaube deshalb, dass es für uns mehr Chancen als Risiken gibt. Kretschmann muss jetzt allerdings liefern, aber das weiß er selbst am besten.
Sind die Grünen jetzt in einer ähnlichen Situation wie die FDP im Bund 2009? Der Höhepunkt ist erreicht und nicht wiederholbar?
Es ist sicherlich so: Der Grat zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und Größenwahn ist oft schmal. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie sich nicht größer machen, als sie sind. Ich erinnere daran, dass wir immer noch in einem Land, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern, gar nicht im Parlament sitzen, das ändert sich hoffentlich im September. Wir sind in bestimmten Bereichen mehrheitsfähig, aber es kommt stark auf die Situation vor Ort an.
Die FDP hat seit ihrem historischen Hoch einen dramatischen Abstieg hingelegt.
Wir wissen, was mit der FDP passiert ist. Aber das ist nicht übertragbar: Erstens sind wir nicht größenwahnsinnig. Zweitens haben wir mehr als ein Thema, das ist ein struktureller Unterschied.
Die CDU macht Familienpolitik, diskutiert Frauenquoten und schwenkt in der Atompolitik, entgiftet also ein Hemmnis für Schwarz-Grün. Sehen Sie diese Option für 2013?
Ich halte Ausschließeritis für fatal, wenn jeder immer erklärt, mit wem er auf keinen Fall zusammenarbeitet, dann geht am Ende oft nichts mehr, siehe Hessen 2008. Wenn es eine rot-grüne oder grün-rote Mehrheit geben wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass daraus eine Regierung entsteht - weil wir mit der SPD mehr Schnittmengen haben als mit der CDU. Nun ist es aber so: Die Linkspartei hat bisher wirklich nicht daran gearbeitet, sich regierungsfähig zu machen. Wenn es 2013 nicht für Rot-Grün reicht, bin ich dafür, mit allen und natürlich auch mit der CDU zu reden. Dann käme es am Ende wirklich auf die Inhalte an, was geht und was nicht geht.
Angesichts der Umfragewerte gab es sogar schon mediale Debatten über einen grünen Kanzlerkandidaten.
Ehrlich gesagt: Ich warte seit Monaten darauf, dass unsere Umfragewerte wieder runtergehen. Weil die Entwicklung in der politischen Landschaft in den vergangenen zehn Jahren unheimlich schnell geworden ist, weil es viel mehr Wechselwähler gibt. Wir dürfen uns deshalb die Debatte "Wer wird grüner Kanzlerkandidat?" um Himmelswillen nicht anhängen lassen. Die Grünen wachsen, das ist gut, aber niemand weiß, wie die politische Stimmung 2013 ist.
Welche Themen bleiben den Grünen noch, wenn Merkel jetzt zur Atomausstiegs-Kanzlerin wird?
Selbst wenn die Regierung einen akzeptablen Atomausstiegsplan vorlegen sollte, wird vielen Menschen klar sein, wer von Anfang an die Position vertreten hat. Das Thema bekommen die Grünen gutgeschrieben, nicht Merkel, die noch im vergangenen Jahr die AKW-Laufzeiten verlängert hat.
Noch einmal: Mit welchen Themen wollen Sie die Zukunft bestreiten?
Die Energiewende ist ein Projekt für die nächsten zwanzig Jahre, das bleibt. Viele trauen uns in der Integrations-, Bildungs- und Familienpolitik und inzwischen auch in der Wirtschaftspolitik viel zu. Eine Kristina Schröder wird sicher nicht dafür sorgen, dass junge Frauen in den Großstädten ihr Kreuz bei der Union machen.
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