Tanz in Brasilien: Die Körper und ihre Feinde
Tanz ist fast eine Allegorie für Brasilien. Doch Bolsonaros Politik lässt junge Künstler*innen um ihren Beruf und ihre Freiheiten bangen.
Ana Paula, die viel älter ist, als sie aussieht, sagt: „Die Zukunft ist nicht für uns.“ Nielson, der gerade noch einen schwul-koketten Charaktertanz geprobt hat, jetzt aber ernst und etwas verträumt wirkt, nickt: „Wir verlieren unseren Boden. Es macht Angst.“ Und André, sein kongenial verschmitzter Duettpartner, ergänzt: „Unsere Eltern wuchsen in einer Gesellschaft auf, in der Kultur nicht so wichtig war. Wir sind eine andere Generation. Und wir werden jetzt zu Feinden gemacht.“
Immer wenn jemand in diesem Gespräch über die Auswirkungen der aktuellen brasilianischen Politik auf die Tanz- und Performance-Szene etwas sagt, nicken die anderen oder streichen sich gegenseitig zur Bestätigung über die verschwitzten Schultern oder Beine.
Dann verschwinden Ana Paula Camargo, André Grippi und Nielson Souza zur nächsten Probe ins freundliche Studio der Companhia de Dança in São Paulo mit zur Stadt hin geöffneten Fenstern. Es ist untergebracht im historischen Zentrum der 20-Millionen-Einwohner-Metropole, im Kulturzentrum Oswald de Andrade, benannt nach dem Autor des berühmten antikolonialen Anthropophagie-Manifests.
Es ist leicht, sich als Teil der Masse zu fühlen
Geprobt wird an zwei Werken, die beim Wolfsburger Festival Movimentos in diesem Monat in Premiere gehen (siehe Kasten). Das über die Volkswagen AG finanzierte Festival ist ein wichtiger Kooperationspartner für internationale Ensembles. Es trägt auch einen Teil der Reisekosten für die Recherchereise, die Basis dieser Reportage ist.
Movimentos ist ein Festival der Autostadt Wolfsburg, das seit 2003 jeden Sommer internationale Tanzkompanien eingeladen und viele Choreograf_innen in Deutschland bekannt gemacht hat. Darunter waren oft Gastspiele aus Brasilien.
Die Companhia de Dança aus São Paulo eröffnet das einmonatige Festival am 19. Juli (bis 21. 7.) mit drei Stücken, choreografiert von Édouard Lock, Nacho Duato und Cassi Abranches.
Die Kompanie von Deborah Colker aus Rio de Janeiro, zum dritten Mal in Wolfsburg, folgt mit der Deutschland-Premiere von „Dog Without Feathers“ vom 1. bis 4. August. 2016 war Colker verantwortlich für die Choreografie der Eröffnung der Olympischen Spiele in Brasilien.
Brasilien gilt als Land der körperlichen Sinnlichkeit. Und das ist weit mehr als ein Klischee. Der Effekt ist spürbar. Es ist leicht, sich als integrierter Teil der Menschenmasse zu fühlen, mit unterschiedlichsten Körpern, in queerer oder Büro-Garderobe, mit viel oder wenig freier Haut. In den Schaufenstern gibt es dünne und fülligere Puppen unterschiedlicher „Hautfarbe“. Die Bewegung im öffentlichen Raum verläuft respektvoll, elegant, umsichtig.
Braucht jemand Hilfe, wird sie sofort angeboten. Umarmungen gibt es oft und an den Metro-Stationen Behälter mit Gratiskondomen. Die allerdings werden, wie Inês Bogéa, die zierlich-elegante Direktorin der Companhia de Dança, mir verrät, nur nachts mitgenommen. Rempeln und Pöbeln erlebe ich nirgends. Auch nicht auf der großen Freitagsdemonstration gegen die massiven Bildungskürzungen der Regierung.
Chauvinistische Bevormundung
Wie kann eine solche Gesellschaft sich zu so viel Körperfeindlichkeit aufpeitschen lassen, wie es seit der Präsidentschaft des offen rassistischen und homophoben Präsidenten Jair Bolsonaro passiert?
„Brasilien ist heuchlerisch“, kommentiert Morena Nascimento. Sie hat im letzten Jahr das sehr erfolgreiche Stück „Um Jeito de Corpo“ (Der Weg eines Körpers) für das Balé da Cidade, das andere große Tanzensemble der Stadt, choreografiert. „Wir sind so sinnlich, aber auf der anderen Seite ist es für Frauen verboten, oben ohne an den Strand zu gehen. Darauf gibt es Gefängnis. Wir sind immer noch Fetische für die Männer.“
Diese Art chauvinistische Bevormundung hat sich, vor allem von evangelikaler Seite, in den zweieinhalb Jahren politischer Wirren, die der Wahl Bolsonaros vorausgingen, mehr und mehr auch auf Tanz und Performance ausgewirkt. Der Wendepunkt war 2017, als massive mediale Hetzkampagnen gegen körperpositive und queere Kunst losgetreten wurden.
Performance manipuliert
Einer der von Verleumdungen und Hate-Speech überhäuften Künstler_innen ist Wagner Schwartz, der für das Kunstmuseum São Paulo die Performance „La Bête“ in Korrespondenz mit Lygia Clarks Skulpturengruppe „Bichos“entwickelte. Dabei konnte sein nackter Körper vom Publikum bearbeitet und arrangiert werden. Als eine Mutter und ihr Kind sich beteiligten und Schwartz an Bein und Arm berührten, wurde ein Video der kurzen Szene aufgenommen, manipuliert und ins Netz gestellt.
Es hagelte Kommentare im Stil von: „Wenn ich dich auf der Straße sehe, werde ich keine Gnade mit dir haben, du unreiner und nutzloser Hund.“ Die Mutter des Kindes, ebenfalls eine Choreografin, musste sich mehreren Polizeiverhören stellen. Schwartz wohnt inzwischen in Paris.
„Wir sind die Generation Lula“
Der Berliner Theaterintendant Wagner Carvalho, ein Kenner brasilianischer Politik, nennt in einem einordnenden Gespräch die Frage, die sich derzeit viele Linke stellen: „Was haben wir falsch gemacht, als wir das Land politisierten?“ Die freien Tänzerchoreograf_innen Júlia Rocha und Eduardo Fukushima, beide Mittdreißiger, nähern sich dieser Frage im Britischen Kulturinstitut São Paulos. Sich charmant ergänzend, widmen sie dem Exkurs einen ganzen Nachmittag. Die gesellschaftliche Polarisierung, die in Bezug auf die moralischen Werte einer pluralistischen Gesellschaft sichtbar wird, sehen sie zum großen Teil als Bildungsproblem.
Der momentan arretierte Lula da Silva gilt ihnen als der erste Präsident (2003–2011), der sich um Bildungs-, Sozial-, Diversitäts- und Genderpolitik gekümmert hat. „Es war die Zeit, in der Tanzstudiengänge an den Unis aufgemacht wurden. Wir haben, anders als unsere Lehrer_innen, ein Universitätsstudium abgeschlossen. Sie gingen ins Ausland, um sich ein Leben als Künstler_innen aufzubauen, wir blieben. Wir sind die Generation Lula.“
Dieser Generationsbruch zieht sich auch jenseits des Kunstkontextes durch viele Familien. Die Mobilisierung Bolsonaros gegen Universitäten, vor allem Geisteswissenschaften und Forschung, trifft oftmals gerade in der Elterngeneration auf fruchtbaren Boden. Alle dazu Befragten haben Erfahrungen in der eigenen Familie.
Schon auf dem Flug nach São Paulo schildert Mauro, mein Sitznachbar, angehender Ingenieur, seine Auseinandersetzung mit dem Vater, der Bolsonaro gewählt hat. Ana Paula von der Companhia de Dança rief irgendwann ihre Mutter an: „Mama, unser Onkel ist verrückt geworden.“
Bildungsfeindlichkeit Bolsonaros
Und sogar in afrobrasilianischen Familien soll die ältere Generation zuweilen Bolsonaro gewählt haben (was bei mehr als 50 Prozent schwarzen Bevölkerungsanteils wahrscheinlich ist). „Sie dachten, Bolsonaro meine seine Rassismen nicht ernst, er wolle damit nur die Linke vor den Kopf stoßen“, erzählt Louis, Ende 30, lange Braids, am Rand der Bildungsdemonstration. Überall um ihn herum sind T-Shirts und Banner mit der Aufschrift „Generation Lula“ zu sehen.
Universitäten und Kunst gelten Bolsonaro, der als eine der ersten Amtshandlungen das Kulturministerium abgeschafft hat, als Hort von „Kommunisten“. Darüber lässt sich achselzuckend Witze machen: dass er die Wörter „Kommunisten“ und „Demokraten“ verwechsle. Oder, wie Júlia Rocha rhetorisch fragt: „Wie kann er das wissen, wo er doch nie eine Universität besucht hat?“ Die Hassparolen des Präsidenten begännen jedoch sich in den Köpfen festzusetzen.
„Wir werden als Vagabunden bezeichnet“, sagt Rocha. Andere als die wirtschaftlich primär relevanten Lebensformen würden im aktuellen politischen Klima nicht akzeptiert. Das betonen auch Marsio, Physiker, und Sheila, Philosophin, am Rand der Demo: „Dass zur Universität auch Forschung gehört, kann Bolsonaro nicht verstehen.“ Der Präsident hat unterdessen nicht nur die Ausgaben für Universitäten um 30 Prozent gekürzt, sondern setzt auch klare Prioritäten. So twitterte er Ende April in Bezug auf Kürzungen in den Fachbereichen Philosophie und Soziologie: „Das Ziel besteht darin, sich auf Bereiche zu konzentrieren, die dem Steuerzahler eine unmittelbare Rendite bringen, wie z. B. Veterinärwesen, Ingenieurwesen und Medizin.“
São Paulo ist eine Stadt der Mauern
Bolsonaros Eingriffe sind umso tragischer, als die demokratischen Infrastrukturen so jung sind wie die „Generation Lula“. Sie ist weitgehend nach Ende der Militärdiktatur in Brasilien aufgewachsen und hoch motiviert. In São Paulo, der Wirtschaftsmetropole des Landes, hat sich die Kunstszene in den letzten Jahren rasant entwickelt. Im Hinblick auf die Selbstorganisation genauso wie auf Soziales. Soziale Segregation ist in Brasilien immer noch Alltag, die Marginalisierung vor allem indigener und afrobrasilianischer Bevölkerungsgruppen Realität.
São Paulo ist eine Stadt der Mauern. Alles, was Putz, Fenster und Tür hat, ist umzäunt und bewacht. Der Rest ist Favela. Außer im historischen Zentrum, wo überall Menschen sterbebereit auf der Straße liegen, sähe die Stadt ansonsten im Vergleich zu Europa stellenweise fast ein wenig nach Sci-Fi aus. Gepflegt. Funktional. Chic. Bis zur Mauer. Das Ballett der Favela Paraisópolis hat in einer Selbstdarstellung aufgelistet, was wer auf welcher Seite der Mauer im Monatsdurchschnitt verdient. Der Unterschied beträgt 93 Prozent.
Hochpolitisierte Tanzszene
Dieses Bewusstsein ist in der hochpolitisierten Tanzszene vorhanden. So gehören Education- und Anti-Rassismus-Programme sowie die Zusammenarbeit mit Krankenhäusern oder Kulturinitiativen in sozial benachteiligten Gegenden nicht nur zum Profil der großen Ensembles wie der São Paulo Companhia de Dança oder de Balé da Cidade, sondern auch zur Arbeit freier Tänzer_innen.
Der von dem brasilianischen Pädagogen Paolo Freire geprägte Begriff des ignorant master spielt dabei eine wesentliche Rolle. Es geht nicht darum, Wissen zu vermitteln. Vielmehr werden gemeinsame Erfahrungen gesammelt, aus denen sich Wissen generiert. 78 Tänzer_innen arbeiteten bis vor zwei Jahren an solchen Transfer-Programmen. Unter João Doria, dem jetzigen Gouverneur und kurzzeitigen Bürgermeister São Paulos, liefen sie allerdings aus. Eduardo Fukushima, der davon erzählt, kommentiert lakonisch: „Werkzeuge zu entwickeln, um die Bedingungen zu verändern, ist schließlich gefährlich.“
Ex-Bürgermeister Doria spielt eine dubiose Rolle im brasilianischen Machtkampf. Zwar gehört er der brasilianischen Sozialdemokratischen Partei an, hat die Wahl Bolsonaros aber unterstützt. Gegen den Kandidaten des verhinderten Lula, Fernando Haddad, der ihm auf dem Bürgermeisterposten in São Paulo vorausging.
Beschneidung der Zuwendungen
Auch national hat es erste radikale Kürzungen gegeben. Durch die Beschneidungen des Lei Rouanet, bei dem Steuergelder – nach einem Eignungsverfahren – an Kunstprojekte vergeben werden können, sind derzeit vor allem große Kompanien wie die Companhia de Dança oder die Kompanie von Deborah Colker aus Rio de Janeiro betroffen. Während die künstlerische Direktorin Inês Bogéa sich von ihrem Anwalt Möglichkeiten erarbeiten ließ, dennoch die gleiche Sponsorensumme zu erreichen, muss Colker in Zukunft 23 Prozent mehr aus Ticketverkäufen erwirtschaften, insgesamt 60 Prozent.
Auch hatten für ihre Kompanie die Korruptionsermittlungen der sogenannten Operation Lava Jato direkte Auswirkungen, bei denen der Konzern Petrobras im Mittelpunkt stand und die dafür sorgten, dass Ex-Präsident Lula da Silva ins Gefängnis musste. Petrobras war Hauptsponsor von Colker. Inzwischen stellte sich durch geleakte Dokumente von The Intercept heraus, dass die Korruptionsermittlungen im Hinblick auf die Verhinderung der Wiederwahl von Lula inszeniert gewesen sein könnten.
Apokalyptische Landschaft
Das war zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Colker aus Anlass eines Gastspiels von „Cão sem plumas“ (Hund ohne Federn), ihrem aktuellen Stück, noch nicht klar. Die von ihr geschaffenen, krakenhaften Menschenwesen, die durch eine apokalyptische Landschaft ziehen, sprechen aber eine eigene Sprache. In Worten ist die hochenergetische Choreografin zurzeit dagegen vorsichtig: „Es ist zu früh, etwas zu sagen. Der Effekt, sofort zu reagieren und loszuschreien, ist gefährlich.“
Júlia Rocha, deren neues Stück „Imagine“ heißt, fühlt unter der ideologischen Aushungerungspolitik vielleicht Ähnliches, schließt aber anderes: „Wir sind in einer Starre. Wir fühlen in unseren Körpern, dass es sehr schwer ist, eine gute Zukunft zu imaginieren.“
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