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Archiv-Artikel

Tanz die Multitude

Die Vermischung von Vermischung – oder Brasilien ist mehr: Mit über 70 Tänzern, mit Elektroakustikern und einer Tanzprofessorin stellt sich die Tanzszene Brasiliens im Theater am Halleschen Ufer und im Hebbel Theater vor

Der Patchwork-Körper: Der Kopf, die Schulter, die Arme, der Brustkorb, der Torso, die Hüfte, alles setzt sich Stück für Stück in Bewegung, na klar, schiebt ab, macht sich rund, taucht unter, streckt sich lang, wendet sich. Passiert im Tanz fast immer und sieht doch aus wie neu, ausgeführt von den acht Tänzern und Tänzerinnen der brasilianischen Gruppe Quasar. So ungewohnt ist die Kombination der Elemente, das Verschieben der Formen. Das ist mehr als ein Eklektizismus, der sich aus modern dance und brasilianischen Rhythmen speisen würde.

Ein Paar verhakelt sich mit Kopf und Nacken und dreht um diesen Punkt wie um den Angelpunkt der Welt. Ein anderes dreht, kugelt und rollt um eine gemeinsame Mitte in Bauchnabelhöhe. Männer, ihre ganze Länge im Zickzack klein gefaltet, titschen wie Gummibälle auf einem Fuß und einer Hinterbacke. Was vom Macho übrig blieb, kommt nur in einer selbstironischen Collage der Gesten auf die Bühne. Das ist witzig und unterhaltsam, höchst intelligent im Aufwirbeln und Neu-Verflechten der Körpersprachen.

Die Gruppe Quasar, geleitet von dem Choreografen Henrique Rodovalho, stammt aus Goiana, einer hier kaum bekannten Millionenstadt im Herzen Brasiliens, einer Retortenstadt ohne Geschichte und große Kulturszene. Quasar, 1988 gegründet, war das erste Tanztheater vor Ort. Ihr Stück „Coreografia para ouvir“ ist zur Tonspur einer Fernsehserie über Straßenmusiker entstanden. Da singen raue und brüchige Stimmen, leiern im Chor wie der Kasten einer Drehorgel, diskutieren, erklären, setzen neu an. Ihrer Musik sitzt die Geschichte im Nacken, über Generationen könnten die Lieder von Mund zu Mund, von Stadt zu Stadt und selbst über Kontinente gewandert sein. Die Körper aber, die sie interpretieren, könnten einer digitalen Bildschirmseite entsprungen sein wie die Feder eines Comiczeichners.

„Die Vermischung von Vermischung“, schrieb die brasilianische Professorin für Tanz, Helena Katz, in ihren 10 Thesen gegen die Klischees vom brasilianischen Tanz, „hat eine Nation entstehen lassen, deren Quote an Vielfalt sogar seine eigenen Einwohner erschrecken kann. In Brasilien erlebt man verschiedene Orte und verschiedene Zeiten gleichzeitig.“ Nichts schien so gut geeignet, diese Thesen zu illustrieren, wie das Stück „Coreografia para ouvir“, mit der das Tanzfestifal „move berlim“ am letzten Wochenende begann.

Das Festival organisiert haben Björn Dirk Schlüter vom Theater am Halleschen Ufer und Wagner Carvalho, der 1990 als Tänzer und Schauspieler nach Berlin kam. Wenn Carvalho von den Stereotypen unseres Brasilienbildes redet, von der Begeisterung für die Erotik des Samba, schreckt er vor dem Etikett „positiver Rassismus“ nicht zurück. Sein Programm will dagegen die ästhetische Heterogenität ebenso wie das Verschmelzen von Einflüssen vorstellen.

Das Hybride ist eine verführerische Konstruktion – doch nicht immer reicht sie aus für ein spannendes Tanzstück. Das bewies die zweite Produktion des Festivals: In „Corpo Aberto“ hat es die Choreografin Ivani Santana auf ein Erforschen der interaktiven Möglichkeiten zwischen Körper und Technik angelegt. Zwei Musiker und Bildingenieure begleiten sie an ihren Laptops und generieren aus ihrem Körper immer mehr Kopien und Nachbilder, bis der Körper der Tänzerin selbst so überflüssig wie der Raum scheint. Da ist weder eine Bereicherung der tänzerischen Möglichkeiten zu spüren noch eine Kritik gegenüber der körperverschlingenden Macht der Medien.

Doch „move berlim“ geht weiter bis 17. April, alle zwei Abende ein neues Stück im Hebbel Theater oder im Theater am Halleschen Ufer, oft zum ersten Mal in Europa: Die Ankündigungen versprechen verwegene Tanzstile und viele Geschichten über die Transformationen der Kulturen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

s.a. www.moveberlim.de