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Tanja (32)

In einem halblangen, geblümten Kleid sitzt Tanja vor ihrem Keybord und blickt zur Decke der U-Bahnstation wie zu der einer Kirche. Wie eine Messe ertönt der Titelsong aus dem Musical „Cats“. Der hektische Passantenstrom bildet einen seltsamen Kontrast zu Tanjas heiliger Konzentration. Ich überlege, ob ich sie überhaupt anspreche. Überrascht blickt sie auf und wehrt meinen Gruß ab. Erst als ich erwähne, dass ich selbst professionell musiziere, bricht das Eis. Wir unterhalten uns über Musik, und ich erfahre von ihrer Ausbildung als Pianistin in Moskau. Jetzt sind Sommerferien, und Tanja versucht, sich in Berlin den Studienunterhalt für ein halbes Jahr zu verdienen. Sie wuchs auf dem Land bei ihrer tiefreligiösen Großmutter auf. Ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Tanja entdeckte durch den Gesang der Großmutter die Musik und hatte den Traum, Komponistin zu werden. Die alte Frau erklärte sie für verrückt und schickte sie mit fünfzehn Jahren in eine Ausbildung zur Ikonenrestaurateurin in die Nachbarstadt. Tanja arbeitete dort viele Jahre in der Kirche und brachte sich heimlich und autodidaktisch das Klavierspiel bei. Ihrer Großmutter erzählte sie davon nichts. Erst als diese vor vier Jahren starb, wagte Tanja den Schritt, nach Moskau zu gehen, obwohl sie dort niemanden kannte, und wurde am Konservatorium angenommen. „Berlin ist eine lebendige, verrückte, schöne Stadt. Wenn ich an meine Babuschka denke, habe ich dennoch ein schlechtes Gewissen. Sie hatte Angst, dass so ein Leben mich verdirbt.“ Tanja lächelt verlegen und spielt die nächste Messe.

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