Taktik versus Spielfreude zur WM: Grummeln und Murren
Ob Brasilien, Holland oder England, kaum eine Mannschaft verbreitet Glanz. Dennoch sind die Spiele der WM nicht so schlecht wie ihr Ruf - und sie können nur besser werden.
Es hat sich ein seltsames Grundrauschen über diese Weltmeisterschaft gelegt, das fast noch mächtiger ist als der Sound der Vuvuzela. Es ist ein unüberhörbares Grummeln und Murren, das inzwischen zu einer Gesamtbeschwerde darüber angeschwollen ist, was da unten in Südafrika eigentlich gekickt wird. Es gibt zu wenige Tore und zu viele Unentschieden, großartige Spielzüge sind rar und spektakuläre Aktionen noch seltener. Schon bevor alle 32 Mannschaften ihr erstes Spiel absolviert hatten, heißt es in den ersten Bilanzen, dass dieses Turnier sportlich weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei.
Hätte nicht gerade die deutsche Mannschaft für einen spielerischen Höhepunkt gesorgt, wäre wahrscheinlich sogar die Rede davon, dass inzwischen alle Großen versuchten, mit traditioneller deutscher Effizienz über die Runden zu kommen. Mark van Bommel jedenfalls musste sich nach dem 2:0-Sieg der Niederländer über Dänemark fragen lassen, was "Arbeitssieg" eigentlich auf Holländisch heißt. "Dasselbe", sagte der Mannschaftskapitän der Oranje Elftal und lachte. Rafael van der Vaart kam sogar zu dem Schluss, dass man "selbst deutsch und die Deutschen holländisch" gespielt hätten.
Was aber das Grundproblem der namhaften Fußballnationen bei diesem Turnier ist, konnte man sehen, als sich am Dienstagabend Brasilien gegen die No-Name-Kicker aus dem dunklen Reich von Kim Jong Il abmühte. Nordkorea bot zwar als einzige Mannschaft des Turniers eine Fünfer-Abwehrreihe auf, ohne ausgewiesenen Libero übrigens, bewegte sich sonst aber durchaus auf der Höhe des heutigen Fußballs. Auch die Nordkoreaner bewiesen, dass sie die Prinzipien des zeitgenössischen Defensivspiels beherrschen und mit unglaublichem Eifer und fast schon militärischer Disziplin anzuwenden wissen. Sie gaben den Spielern von Carlos Dunga nur in wenigen Momenten den Raum, den auch brasilianische Spieler brauchen. Und weil die Nordkoreaner kaum müde wurden, änderte sich das Bild bis zum Ende nicht.
Im Grunde erlebten die Brasilianer genau das, was einem Bundesligisten regelmäßig im Pokal gegen Drittligisten widerfährt. Fast alle Profifußballer auf der Welt sind nämlich inzwischen in der Lage, das Spiel des Gegners zu zerstören. Mangel an Klasse kann man mit Organisation, Konzentration und unbedingter Bereitschaft, sich in Überzahl auf den ballführenden Spieler zu stürzen, gut kompensieren.
Genau diesen Weg haben die Außenseiter eingeschlagen, ob sie Nordkorea oder Slowenien, Neuseeland oder Paraguay heißen. Und selbst mittelstarke Teams, die sich Hoffnungen auf die nächste Runde machen könnten, konzentrieren sich zunächst auf die Defensive.
Im Vereinsfußball, wo die großen Klubs an fast jedem Wochenende mit diesem Problem konfrontiert sind, ist die Antwort darauf ein zunehmend durchorganisiertes Angriffsspiel. Die Offensive folgt immer häufiger eingeübten Mustern, wie sie in dieser Saison gerade der FC Bayern überzeugend vorführte.
Die Entwicklung geht zu einer klareren Systematik im Spiel nach vorne, doch eine solche zu entwickeln braucht Zeit. Woran Vereinstrainer monatelang arbeiten können, das müssen ihre Kollegen bei den Nationalmannschaften innerhalb einer kurzen Vorbereitungszeit schaffen.
Kein Wunder, dass vor allem das Spiel der Favoriten derzeit nur im Rohbau zu sehen ist, sieht man einmal von den Deutschen ab. Da liegen noch eine Menge nicht verlegter Kabel herum, es sind noch nicht alle Leitungen verstöpselt, und ans Verputzen der Wände ist schon gar nicht zu denken. Gerade unter solchen Umständen wiegt zudem der Druck, das erste Spiel halbwegs unbeschadet zu überstehen, zusätzlich schwer.
Darum haben auch vergangene Turniere stets reichlich holprig angefangen. Vor vier Jahren etwa startete der spätere Weltmeister Italien mit einem glücklichen Sieg über Ghana, während Endspielgegner Frankreich nur ein torloses Remis gegen die Schweiz schaffte. Zudem gab es am ersten Spieltag längst vergessene Partien wie das 0:0 zwischen Schweden und Trinidad oder das mühselige 1:0 der Portugiesen über Angola.
So sind glanzlose Arbeitssiege wie die der Brasilianer und Holländer oder die Unentschieden von Italien und England noch kein Ausdruck von deren genereller Schwäche, sondern mühsame Schuftereien auf ihren Fußballbaustellen. Es besteht auch kein Grund, schon jetzt die Hoffnung fahren zu lassen, noch mitreißende WM-Spiele zu erleben. Und bis dahin wird man sich vielleicht an das Grundrauschen aus der Tröte gewöhnt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!