: Kein Heilmittel gegen die Klassenherkunft
„Von Zeit zu Zeit“ – die Tagebücher des Eisenbahnerkindes und Halbwaisen Rafael Chirbes sind eine phänomenale Entdeckung. Zur Frankfurter Buchmesse erscheinen sie nun auf Deutsch
Von Ruthard Stäblein
Ein Rasnotschinze braucht keine Erinnerungen, für ihn genügt es, von Büchern zu erzählen, die er gelesen hat – und die Biografie ist fertig.“ An dieses Motto des russischen Autors Ossip Mandelstam hält sich der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes, der einen „Rasnotschinzen“ – und sich selbst – als einen „Intellektuellen plebejischer Herkunft“ sieht. Chirbes’Vater war Hilfsarbeiter bei der Eisenbahn. Er starb 1953, als Rafael vier Jahre alt war. Mit acht Jahren wird Rafael, der aus einem Kaff in der Nähe von Valencia kommt, in ein Internat für Eisenbahnerwaisenkinder geschickt, das von Nonnen geleitet wird. Dort, in der Nähe von Avila, muss er seine valencianische Sprache der Herkunft verstecken und Kastilisch lernen.
Aber dann studiert er Geschichte, engagiert sich in einer linksradikalen Splittergruppe im Kampf gegen das Regime Francos. Nach Francos Tod 1975 befreit sich die spanische Jugend von der schier endlosen Tristesse, der Enge, der brutalen Verfolgung von demokratischen Regungen, die mehr als 36 Jahre Spanien beherrschte. Es folgen die Exzesse der „movida“, wie wir sie aus den Filmen von Almodóvar kennen. Auch Chirbes ist dabei, trinkt über die Maßen, raucht wie ein Schlot „Ducados“, nimmt Drogen aller Art, lebt sein Schwulsein aus, feiert die Nächte durch.
Er gründet mit Ex-Genossen Sobremesa, eine Zeitschrift für kulinarische Genüsse und Reisen. Redigiert fleißig Beiträge, reist als Reporter durch die Welt, goutiert Haute Cuisine und edle Weine. Er verdient so das Geld, das er braucht, um frei schreiben zu können. Denn das ist sein eigentliches Lebensziel: unabhängiger Schriftsteller sein. Mit knapp 40 Jahren veröffentlicht er seinen ersten Roman, „Mimoun“. Doch Ruhm und Preise erhält er in Spanien erst mit seinem vorletzten Roman, „Krematorium“. Da ist er schon todkrank. 2015 stirbt er im Alter von 66 Jahren an Lungenkrebs in seinem Heimatdorf Tavernes bei Valencia.
Trotz des (späten) Ruhms hat ihn seine Klassenherkunft bis zuletzt beschäftigt. Wie, ist jetzt in seinen Tagebüchern nachzulesen. Chirbes schreibt darin: „Es gibt kein Heilmittel gegen die Klassenherkunft, nicht einmal Geld oder soziales Prestige. Das erstaunt mich nicht. Als Materialist weiß ich, dass die Seele ein Abbild der Umstände ist, ein komplexes Geflecht aus Formen, Tabus, Hoffnungen, Misstrauen und Groll, das sich in der frühen Kindheit herausbildet. Sie ist eine Komposition, eine Kombination aus Materialien, aber auch eine Wunde, gegen deren Schmerz du dich wehrst.“
Die Tagebücher hat Chirbes zwischen 1984 und 2005 verfasst und vor seinem Tod redigiert. Mit „Von Zeit zu Zeit“ hat Chirbes tatsächlich eine Biografie im Sinne von Mandelstams plebejischem Intellektuellen in Form von Tagebüchern geschrieben. Sie offenbaren die Früchte seiner Lektüren, die ihm dazu dienten, einen moralischen Halt in der Welt zu finden. Und darüber hinaus eigene Romanprojekte vorzubereiten. Eine typische Notiz aus den Tagebüchern: „Selbsthilfe- oder therapeutische Romane interessieren mich nicht. Ich habe keine Lust, über das besondere Leiden von Minderheiten in modernen Gesellschaften zu schreiben. Paare mit Problemen sollen sich trennen und Schwule sollen heiraten.“ Er möchte die Welt mit ihren Widersprüchen konfrontieren, beeinflusst von Autoren wie Hegel, Marx, Dostojewski, Thomas Mann, Musil oder Broch.
„Nicht derjenige, der auf dem Foto am schärfsten zu erkennen ist“, so notiert er, „verleiht dem Roman Sinn, sondern derjenige, der zu dem beunruhigenden Schatten blickt, der am Horizont aufzieht und den wir beim Betrachten des Fotos übersehen haben.“ Er beschäftigt sich mit Gustave Flaubert, der eine unabhängige, objektiv erscheinende Erzählstimme eingeführt hat. Dies ist auch in Chirbes’„Spanien-Trilogie“ zu erkennen, die aktuell neu aufgelegt werden.
Mit diesen in Spanien unter und nach der Franco-Diktatur handelnden Romanen ist Chirbes bekannt geworden. Die Titel zitieren Kampfparolen der Linken: „Der lange Marsch“, „Der Fall von Madrid“ „Alte Freunde“. Sie sind jedoch gebrochen ironisch zu verstehen. Chirbes erzählt aus dem Inneren der Systeme. Von Regimewächtern, aber auch von Franco-Gegnern. Er sitzt dabei gleichsam unter der Schädeldecke seiner Personen, besitzt die außerordentliche Gabe, sich in die gegensätzlichen Figuren und Charaktere einzufühlen.
Rafael Chirbes
Chirbes rechnet in Band 1 der Trilogie mit dem Folklorismus der Franco-Ära ab: „Hier ist nur noch der Abschaum geblieben: schwitzende Trottel, die einem Ball Fußtritte versetzen, Sängerinnen, die nach Achselschweiß stinken, wenn sie die Arme heben, um mit den Kastagnetten zu klappern; und Priester, die wie Blut die Ignoranz und die Angst saugen.“ Hier treffen wir auf eine blumige bis drastische poetische Übermalung einer Geschichte aus dem Bürgerkrieg. Chirbes beschreibt, wie die rechten Falangisten General Francos die Stadt Alicante angreifen und verhindern, dass sich die letzten Republikaner auf ein Schiff retten können. Da „schlug der Tod seine Krallen ins Herz der Stadt … und Raubvögel stoßen zu, gierig nach mehr von jenem Blut, das schon auf die Hafenmole getropft war.“ Mit dem Fortschreiten der Ereignisse und der Romanfolgen wird der Stil von Chirbes jedoch immer prosaischer. Der Autor erzählt von der Niederschlagung eines Aufstandes in Marokko, bei dem der Bauernsohn Carmelo fällt, und wendet sich schließlich dem Spanischen Bürgerkrieg und seinem tragischen Ausgang 1939 zu. Hunger und Elend für die republikanischen Verlierer stehen dem Protzen der faschistischen Sieger gegenüber. Doch Chirbes wird immer weiter in die jüngere Vergangenheit vordringen. Band 2 spielt am 19. November 1975, dem Tag von Francos Tod. Im abschließenden Band versammelt der Autor alte Genossinnen und Genossen aus der Widerstandszeit und schaut, was von deren Idealen noch übrig ist. Folgt man Chirbes: nicht viel. Der Prozess des „desengaño“, der Desillusionierung, ist in seinen Tagebüchern sarkastisch gespiegelt. Dem neuen Spanien misstraute dieser große Autor bis zuletzt.
Die stärksten Stellen in den Tagebüchern sind hingegen jene, in denen Chirbes sein Herz entblößt, sich nackt zeigt. Durchaus wortwörtlich gemeint, wo er seine Lust an der männlichen Erotik beschreibt. Aber auch seine Furcht vor dem Freund, der Intimität, die ihn überwältigt und in Besitz nimmt – ebenso wie die Trauer bei dessen Tod.
Chirbes berichtet hier von seiner depressiven, selbstzerstörerischen Seite. Er lässt sich mit einem „miesen Typen“ ein, „der zu Francos-Zeiten Pissoir-Schwule erpresste“ („also hatte mein Penetrieren etwas von einer späten Rache“). Seine Depressionen und Selbstzweifel kippen wiederum auch rasch in Euphorie um. Etwa wenn es ihm gelingt, eine Landschaft zu beschreiben – oder überhaupt wieder schreiben zu können.
Eines aber bleibt prägend für die Tagebücher wie sein gesamtes Werk: Chirbes’Respekt vor der arbeitenden Klasse. Und die Nachsicht für ihre Schwächen. Seine Hochachtung gegenüber ihren Produkten, die auf Fähigkeiten, Erfahrung, Wissen, im Wesentlichen auf Handarbeit beruhen. Auch seine Tagebücher hat Rafael Chirbes mit der Hand, einfühlsam und mit besonderen Füllern geschrieben.
Rafael Chirbes: „Von Zeit zu Zeit. Tagebücher 1984–2005“. Vorwort von Heinrich von Berenberg. Aus dem Spanischen Dagmar Ploetz und Carsten Regling. Kunstmann Verlag, München 2022, 471 Seiten, 34 Euro
Rafael Chirbes: „Spanien-Trilogie. Der lange Marsch. Der Fall von Madrid. Alte Freunde“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2022, 816 Seiten, 39 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen