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Tag X in der Wilstermarsch

■ Das Atomkraftwerk Brokdorf ging am Dienstag überraschend in Betrieb / Symbol der bundesdeutschen Anti–AKW–Bewegung / Dubioses Sicherheitssystem und fragwürdige Ökonomie

Nach mehr als zehn Jahren Widerstand, Prozessen, Massen–Demonstrationen und militanten Kämpfen ist am Standort Brokdorf der vier Milliarden DM teure 1300–Megawatt–Reaktor ans Netz gegangen. Das AKW hatte erst am Freitag von der Kieler Landesregierung die Betriebsgenehmigung erhalten. Die Bürgerinitiativen hatten für den Tag X zu Aktionen und Demonstrationen aufgerufen, waren aber von dem frühen Zeitpunkt der Inbetriebnahme offenbar überrascht. Hamburg (taz) - Vier Miliarden Mark sind verbaut, die Banken wollen Zinsen sehen, das Anlagekapital der Brokdorf–Eigner Preussen–Elektra (PREAG) und Hamburgische Electricitätswerke (HEW) soll Rendite bringen. 1.300 Megawatt Kapazität drücken seit gestern in den europäischen Stromverbund. Kein Mensch braucht diesen Strom. Inzwischen hat dies selbst der Hamburger Senat zugegeben: Brokdorf sei „für die Stromversorgung nicht erforderlich“, stellte er am 16. Sept. fest. Noch deutlicher am 23. Sept.: „Gegenwärtig bestehen im Kraftwerkspark der HEW erhebliche Überkapazitäten. Selbst wenn alle AKWs, an denen die HEW beteiligt sind (an Brokdorf mit 20 Prozent, Krümmel mit 50 Prozent, Stade mit 33 Prozent, Brunsbüttel 67 Prozent) sofort abgeschaltet würden, würde in Hamburg, welches mit jetzt über 80 Prozent Atomstromanteil den Weltrekord hält, kein einziges Licht ausgehen, errechnete der Senat. Die konventionellen Kraftwerkskapazitäten der HEW würden ausreichen, um die Jahresspitze von 1.864 MW (am 11.1.85 erreicht) abzudecken. Mit den 260 MW aus Brokdorf (dem HEW–Pflichtanteil) klettert Hamburgs Atomstromkapazität auf 1.617 nicht benötigte MW. Auch die PREAG, Energiegigant, der vom Main bis Flensburg das fast alleinige Energiemonopol hat, kann seinen 80 Prozent–Anteil am Brokdorfstrom eigentlich nicht gebrauchen. Eine genaue Kapazitätsrechnung fällt allerdings schwer: Die PREAG liefert ihre Energie - mit Ausnahme industrieller Großkunden - fast nie direkt an Endverbraucher. Eng mit dem europäischen Stromverbund verflochten, kann sie ihre Kapazitätsbilanzen frisieren. Auch die PREAG hat - das be stätigen Insider - schon ohne Brokdorf erhebliche Überkapazitäten. Von den 10 Steinkohlekraftwerken, an denen die PREAG beteiligt ist, soll nach ihren Angaben keines sofort stillgelegt werden. Man will einige der schlimmsten Dreckschleudern, die nicht mit Rauchgasentschwefelungsanlagen nachgerüstet werden sollen, wie geplant auslaufen lassen, allenfalls etwas vorzeitig in der Kapazität runterfahren. Wohin aber mit dem Atomstrom aus Brokdorf? Die Börse zeigt sich optimistisch: Sowohl die HEW–Akte (71 Prozent Stadt, der Rest privat), die sich schon vom Ausstiegskonzept des Hamburger Senats völlig unbeeindruckt zeigte, blieb bei soliden 123 DM (Jahrestiefstkurs 114 DM), die VEBA–Aktie (Konzernmutter der PREAG) sonnte sich bei unveränderten 292 DM (Jahrestiefstkurs 234 DM). Das ökonomische Wunder, eine schier unvorstellbare große Menge eines völlig überflüssigen Produktes auf dem Markt unterzubringen, erläutert ein PREAG– Sprecher so: Die PREAG sei ein europaweiter Stromverkäufer. Mit dem Atomstrom aus Brokdorf baue man diese Position noch weiter aus, werde mächtiger. Überschußstrom, wie aus Brokdorf, wird zu täglich neu festgesetzten Preisen auf eine Art Spotmarkt für Strom im europäischen Verbund verkauft. Die atomare Kilowattstunde kostet die PREAG derzeit rund 11 Pfennig (inklusive der Rücklagen für die Atommüllbeseitigung), Steinkohle–Strom komme auf 15 Pfennig. Dieser Preisunterschied mache selbst Überschußstrom noch lukrativ. Ganz anders hat kürzlich Hamburgs Chef–Ökonom und Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi gerechnet: Nach seinen Aussagen liefert ein modernes entschwefeltes Kohlekraftwerk den Strom um rund 4 Pfennig pro Kilo wattstunde billiger als ein neues AKW. Teurer Atomstrom Wer hat recht? Beide: Der PREAG–Preis ist eine Durchschnittszahl. Strom aus alten, bereits abgschriebenen AKWs ist erheblich billiger als der aus neuen. Auf 15 bis 16 Pfennig Selbstkosten muß die PREAG ihren Brokdorf– Strom intern kalkulieren, während ein modernisiertes Kohlekraftwerk wie beispielsweise der Import–Kohlegigant Insel XXXX (710 MW) deutlich billiger kommt. 4 Milliarden verbaut Dennoch macht der Verkauf von Brokdorf–Strom für die PREAG betriebswirtschaftlich Sinn: Die 4 Milliarden DM sind verbaut, sie sollen wenigstens zum Teil zurückfließen. Die Stillegung alter bereits abgeschriebener AKWs, welche für die Stromkonzerne durchaus möglich wäre, ohne die eigene Existenz zu gefährden, scheitert an den günstigen Erzeugungskosten, in die das Risiko eines GAU selbstredend nicht hineingerechnet wird. Billiger Kohlestrom Obwohl die PREAG aus ihren AKWs problemlos aussteigen könnte (der Hamburger Senat hat für die HEW errechnet, daß deren AKWs inklusive Brokdorf schon auf einen Buchwert von nur 1,8 Milliarden Mark abgeschrieben sind), indem sie Kohlekraftwerke modernisiert, AKWs abschaltet und so in Zukunft sogar erheblich billiger Strom erzeugen könnte, wird, nur um jetzt ja keinen kurzfristigen Gewinn zu verpassen und das investitionspolitische Gesicht zu verlieren, knallhart an der Atominvestitionspolitik festgehalten. GAU hin - Tschernobyl her. Florian Martens.

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