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Tätowieren als HäftlingsritualHinter den Gittern, unter der Haut

Knasttattoos sollen Identität stiften, von Freiheit und Erinnerungen erzählen – und bergen gesundheitliche Risiken. Nun sterben sie aus, die alten Symbole verlieren an Bedeutung.

Nadelstich mit Tradition: Knasttattoos erzählen von Sehnsüchten und Hoffnungen. Bild: Photocase/Thomas K.

Erst wenn Stefan Grünweg* den rechten Ärmel seines T-Shirts hochschiebt, sieht man, wo er fast acht Jahre seines Lebens verbracht hat. Von der Schulter grinst eine Harlekinfratze herab. Auf dem Oberarm prangt ein Löwenkopf. Auf dem Rücken streifen Wölfe umher. "Rudeltiere", sagt Stefan Grünweg, "aber auf der Jagd sind die alleene." Sein Berlinerisch ist so breit gedrückt wie der Zigarettenfilter, durch den er die letzten Milligramm Teer in sich hineinzieht.

Man muss Stefan Grünweg eine Zeit lang zuhören, um zu verstehen, warum die Wölfe auf dem Rücken des 35-Jährigen herumstreunen. Es sind Tätowierungen, dunkel in die Haut geritzt. Für immer. Sie erzählen aus Grünbergs Leben. Ein Leben, das er zu einem großen Teil in Berliner Gefängnissen verbracht hat. Wirtschaftskriminalität. Allein, wie ein Wolf. Er saß sechs Jahre, war auf freiem Fuß und ging wieder in den Bau - noch mal zwei Jahre. Dort hat er sich seine Erinnerungen und Sehnsüchte unter die Haut stechen lassen - damit er nichts vergisst.

Gesetzlich ist das Tätowieren im Gefängnis verboten. Gestochen wird trotzdem. Der Vorgang braucht - wie alles im Gefängnis - Erfahrung, Zeit, Kontakte und Geschick. "Im Idealfall kommt man an einen ehemaligen Tätowierer oder einen guten Zeichner", sagt Grünweg.

Mit Nadel und Farbe

Die Maschine: Eine Kanüle oder eine einfache Nähnadel werden durch die Spitze eines Fineliners gesteckt und anschließend mit einer Kugelschreibermine, die als Farbtank dient, verschmolzen. Dann wird der Motor eines Rasierapparates oder eines Walkmans daran gebastelt. Dauert etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten.

Die Farbe: Früher wurde der Absatz von den Schuhen geschnitten, angezündet und der Ruß mit Shampoo oder Zahnpasta gebunden. Heute beschaffen sich die Häftlinge auch echte, aber teure Tätowierfarbe. Ist die nicht zur Hand, tut es auch Tinte für den Füller - die bekommt man im Knast mit einer Bastelgenehmigung.

Tätowiert wird dann meist am Nachmittag, wenn sich alle Häftlinge frei auf den Fluren bewegen dürfen. "Gefängniswärter wollen immer alles zuschließen", sagt Grünweg. "Das macht man sich einfach zunutze und lässt sich gemeinsam mit dem Tätowierer von einem Mithäftling, dem man vertraut, in die Zelle einschließen. Wenn ein Beamter vorbeikommt, dann ist die Zelle für den abgeschlossen - und der Gefangene nicht da."

Mit dem Feuerzeug desinfiziert

Bild: taz

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Das Problem mit der Hygiene - hierzulande einer der Gründe für Tätowierungsverbot hinter Gittern - stellt für die Häftlinge kein Hindernis dar. Den Pflegehelfern assistiert stets ein Häftling, der das Arztzimmer sauber macht. "Der kann mal eine Flasche Sterilium verschwinden lassen oder einen Latexhandschuh." Natürlich gebe es auch Leute, die mit angesetztem Alkohol desinfiziert haben. "Meistens wird aber nur die Nadel mit dem Feuerzeug zum Glühen gebracht, und dann ist gut."

"Gut" sind diese Methoden für die Deutsche Aids-Hilfe nicht - denn im Gefängnis werden Blutkrankheiten wie Hepatitis C oder der HI-Virus nicht nur durch Drogenkonsum und die Spritzenweitergabe, sondern auch durch unsaubere Tattoo- und Piercewerkzeuge und die Farbe selbst übertragen. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts über Infektionskrankheiten unter Gefangenen in Deutschland haben sich 30 Prozent der Befragten im Gefängnis tätowieren lassen - meist unter unhygienischen Umständen.

Deshalb geht die Deutsche Aids-Hilfe mit professionellen Tätowierern in die Gefängnisse und betreibt Aufklärung. Am unbedenklichsten ist immer noch der Besuch im professionellen Studio mit sauberem Equipment und einem erfahrenen Tätowierer. Aber das ist auch eine Preisfrage: Ein Tattoo ist im Knast schon für ein paar Päckchen Tabak, umgerechnet gut 35 Euro, zu haben - günstiger als die 80 oder 100 Euro im Studio.

Viele Exhäftlinge entwickelten nach ihrer Haft eine Abneigung gegen die im Gefängnis oder schon vor der Inhaftierung im Rausch gestochenen Tattoos. "Draußen lassen Sie sich als Allererstes die Tattoos überstechen", sagt der Jurist Kai Bammann. Er hat nach seinem Jurastudium lange als Berater im Strafvollzug gearbeitet.

Zugehörigkeitssymbole verschwinden

Das typische Knastattoo, sagt Bammann, gebe es kaum noch. Motive wie die Tränen unter dem Auge - steht für Mord - oder die drei Punkte (für "Glaube, Liebe, Hoffnung" - oder für "Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen") sind zwar nicht verschwunden, werden aber immer seltener. Damit verliert auch ihre Funktion als Zugehörigkeitssymbol an Bedeutung. Zumal der Prisontattoo-Style auch außerhalb der Anstalten immer beliebter werde: Die Pin-up-Girls, das Spinnennetz - "das sieht man in der Punk- oder Gothicszene - und weniger im Knast".

Das ist auch dem Fotografen Klaus Pichler aufgefallen. Für sein Buch "Fürs Leben gezeichnet" hat er ehemalige Häftlinge und ihre Tätowierungen abgelichtet. "Dadurch, dass die Tätowierung salonfähig geworden ist, die Knasttätowierungen von den normalen Studiomotiven verdrängt werden", sagt er.

Es sind blassbläuliche Skizzen von Tieren, krakelige Inhaftierungsdaten, verschnörkelte Frauennamen. Die Bilder erzählen Geschichten gebrochener Männer, erinnern an Erinnerungsunwürdiges, an Fehltritte, ans Scheißebauen und daran, dass man da irgendwie wieder rauswill: schiefe Zeichnungen, verwaschen, ohne Konturen. Motive, die mit Abwesendem und Sehnsüchten zu tun haben.

Manchmal sind es Zeichen aus der Seefahrt, die Windrose, Schiffe. Sie erzählen von Freiheit. Oder Superhelden, Sprüche, Schwüre, die das Selbst stilisieren. "Die Haut ist das Substrat, in dem die eigene Identität eingetragen werden kann", sagt Pichler, der in Wien in der Nähe eines Obdachlosenheims wohnte. An der Haltestelle vor seinem Haus standen die Männer und tranken. "Manche hatten komplett blaue Unterarme, zugemalt, dass man die Haut nicht mehr erkennen konnte", erzählt er. "Ich fand das spannend. Da stecken eine Struktur und sehr genaue Regeln hinter. Eine richtige Tradition." Eine Tradition, die ausstirbt.

Pichlers Bildband "Fürs Leben gezeichnet" ist die Dokumentation eines Phänomens, das durch den Wandel des Tattoos - weg von Außenseitertum hin zum gesellschaftsfähigen Accessoire - zu verschwinden droht. Durch die Verschiebung der eigentlichen Bedeutung und die Adaption durch Subkulturen hat es das Tattoo raus aus den Gefängnissen, Hafenkneipen und dunklen Ecken hinein in die Mitte der Gesellschaft geschafft. Sogar so weit, dass die Motive in Retromanie schon als zitierfähig gelten.

*Name von der Red. geändert

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7 Kommentare

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  • N
    nGâz

    @Anne: Ich kann meinen Körper auch ohne Frust im Freibad zeigen. Mit allen Narben und Tätowierungen. Es ist mein Leben, mein Körper und meine Erinnerung.

    Ich brauche keins meiner Tätowierungen, um Gespräche zu beginnen oder um mitreden zu können.

    Allerdings kenne ich auch einige Leute, die sich ein Tattoo stechen ließen, um sich z.B. zu profilieren. Die stehen dann halt ein paar Jahre weniger begeistert da.

    Ich finde, es zeugt von Charakter, Menschen als das zu sehen, was sie sind, und nicht, darüber zu urteilen, wie sie sich dabei ausdrücken.

     

    Zum Artikel: Eine Träne unter dem Auge KANN ein Zeichen für Mord sein. Oder für zehn Jahre Haft. Oder für den Verlust eines nahestehenden Menschen. Oder, oder, oder... Knasttätowierungen haben oft unterschiedliche Bedeutungen, je nach Land, Region, Nationalität des Häftlings, Bandenzugehörigkeit oder auch Generation.

  • I
    Isa

    @ reblek: In der Verlagsbranche werden seit mehreren Jahren alle Budgets auf drastische Art gestrichen. Die Posten der Lektoren sind davon besonders betroffen. Willkommen in der freien Marktwirtschaft.

    @ Anne: Von Tattoos auf den Charakter eines Menschen zu schließen ist eine unreflektierte Aussage. Wenn man sich ein Bild FÜR IMMER stechen lässt und sich sicher ist, dass man sein Leben lang zu diesem Motiv steht - ist das nicht ein Zeichen für Charakterstärke?!

  • BP
    bilder pracht

    @Anne..ja ne is klar, wer sich selber auf sich selbst ausdrückt hat keinen character.

    gibt ja genug Leute die wie im artikel beschrieben etwas von sich bewahren wollen oder sich erinnern wollen. und das sich selbst bewahren dürfte im Knast recht schwer sein.

    Aber für menschen wie deine generation (u 30, dann gehöre ich da auch zu wie ich erschreckt feststellen muss) scheint das selber ausdrücken und das character haben sich ja auf facebook zu beschränken.

     

    ansonsten find ich den artikel recht einfühlsam und schön.

  • F
    Felix

    Was soll der Quatsch? Wer interessiert sich schon für Verbrecher und ihre dümmlichen Knastbräuche? Schreiben Sie lieber darüber, wie es den Verbrechensopfern geht. Überlebende Verbrechensopfer sind nicht selten den Rest ihres Lebens von Verletzungsfolgen gezeichnet, bleiben dadurch körperlich behindert und traumatisiert. Viele Verbrechensopfer kommen bei Gewalttaten um. Die Hinterbliebenen verbleiben in Trauer, Verzweiflung und Wut. Sehnsucht nach den ermordeten Lebenspartner, durch das Verbrechen zerstörte Träume, Trauer, nicht mehr gutzumachender Schmerz.

     

    Schauen Sie einmal in die Augen eines kleinen Kindes, das nach seinem Vater oder seiner Mutter frägt, dieses leise, zaghafte "Wo ist Mami?" oder "Wann kommt Vati wieder?" und der Blick in den Augen des Kindes. Und dann versuchen Sie einmal dem Kind seine Frage zu beantworten, wenn Vati bei einem Überfall zu Tode geprügelt, Mami vergewaltigt und erwürgt wurde, oder so zugerichtet, dass sie für immer ein Schwerstpflegefall bleiben!

  • R
    reblek

    "Erst wenn Stefan Grünweg* den rechten Ärmel seines T-Shirts hochschiebt, sieht man, wo er fast acht Jahre seines Lebens verbracht hat. Von der Schulter grinst eine Harlekinfratze herab. Auf dem Oberarm prangt ein Löwenkopf. Auf dem Rücken streifen Wölfe umher." - Toll, bei hochgeschobenem rechtem Ärmel ist der Rücken zu sehen.

    "... hierzulande einer der Gründe für Tätowierungsverbot..." - Möglicherweise "für das"?

    "Das typische Knastattoo..." - Spricht sich nett (ohne überflüssiges viertes "t").

    "'Dadurch, dass die Tätowierung salonfähig geworden ist, die Knasttätowierungen von den normalen Studiomotiven verdrängt werden', sagt er." - Über diesen Satz und seine Vollständigkeit darf ruhig noch einmal jemand nachdenken.

    "'Die Haut ist das Substrat, in dem die eigene Identität eingetragen werden kann', sagt Pichler..." - Er sollte es mit "in das" versuchen.

    "... weg von Außenseitertum hin zum gesellschaftsfähigen Accessoire..." "hin zum", aber "weg von"?

    "Die Maschine: Eine Kanüle oder eine einfache Nähnadel werden durch die Spitze eines Fineliners gesteckt..." - Sie "werden" durchaus nicht, denn nur eine "wird", die Kanüle oder die Nähnadel.

  • JA
    J. Amazonas

    Kann es sein, dass Tätowierungen einfach neu-deutsches Spießertum geworden sind? Dass sie ganz locker das Angestellten- und sogar Akademikermilieu erobert haben? Immerhin hat sogar die Frau des Bundespräsidenten eins. Mehr Mainstream geht doch gar nicht mehr! Klar, dass das die wirklichen Nischenkulturen und wahren Individualisten nicht mehr reizt.

  • A
    Anne

    Tattoos sind für Menschen ohne Charakter. Sie benötigen sie um ein Gespräch zu starten. Ich aus einer Generation in der ohne Arschgeweih und Stacheldraht um den Oberarm vermeintlich nichts geht bin stolz darauf einen unverschandelten Körper zu haben den ich auch mit 30 ohne Frust im Freibad zeigen kann.