Tabellenführer ohne Erfolgsrezept: Überraschungsteam Hertha
Berlin erklimmt nach einem 2:1 gegen die Bayern die Tabellenspitze. Beim Effizienzwunder Hertha erklärt man den unfassbaren Erfolg mit einem banalen Satz: "Wir sind eine Einheit."
BERLIN taz Scharen von Spezialisten sind daran gescheitert, Herthas Aufschwung zu erklären, und nun das: Dieser enigmatische Verein stürmt an die Tabellenspitze der Bundesliga, als wäre es ein Leichtes. Trainer Lucien Favre weigert sich ja seit Wochen, den Wissensdurst der verdatterten Expertenriege zu stillen. Er sagt: "Wir machen nichts."
Was wohl heißen soll. Wir machen nichts Bestimmtes. Aber stimmt das? Was läuft da in Charlottenburg für ein merkwürdiges Experiment? Wie kann es sein, dass eine Elf, die im Spiel gegen Bayern München nur 38 Prozent Ballbesitz hat und die nur 45 Prozent der Zweikämpfe gewinnt, die Partie trotzdem für sich entscheidet, und das nicht einmal unverdient?
Wie kommt es, dass Berlin aus zwei Torschüssen zwei Tore macht und zum x-ten Mal mit einem Tor Unterschied als Sieger vom Platz geht? Wie, verdammt noch mal, ist das möglich, obwohl mit Pantelic, Kacar, Chahed und Cicero wichtige Leute fehlen? Und wieso ist die Abwehr so stabil, obgleich mit dem Brasilianer Rodnei ein Spieler als Linksverteidiger von Beginn an aufläuft, der noch keine einzige Minute in dieser Saison für Hertha gespielt hat? Kruzifix, es ist ein Rätsel.
Aber nicht für Lucien Favre, den Schweizer mit der sympathischen Aura eines Gymnasiallehrers. Er erklärt den Erfolg als gruppendynamisches Wunder. "Wir sind eine Einheit", sagt er. Auf diesen Nenner lässt es sich wohl bringen. Hertha ist eine Einheit. Okay. Das klingt ganz gut, ist aber ziemlich banal.
Denn jeder Trainer, der etwas auf sich hält, bringt diesen Gedanken unters Volk: Der Einzelne ist nichts, das Team ist alles. Die Summe ist mehr als die Einzelteile. Blabla. Das ist Gewäsch aus dem Seminar eines Motivationsgurus. Aber wenn Favre solche Sätze sagt, dann sind sie irgendwie glaubhafter. Sie müssen es sein, denn seine Spieler für sich genommen sind keine großen Nummern.
Gut, Marko Pantelic ist, wenn er Bewegung als eine sinnvolle Option erachtet, ein formidabler Kicker, auch Josip Simunic, Arne Friedrich und der immer besser werdende Keeper Jaroslav Drobny stechen hervor, aber sonst stehen Leute im Kader, die auch beim VfL Bochum spielen könnten, oder in Frankfurt.
Sehr wenig Geld hat die Hertha in der letzten Zeit für Kicker ausgegeben, "viel weniger als die anderen", darauf hat Favre nach dem 2:1-Sieg über die Bayern noch einmal verwiesen. Dass es trotzdem klappt, muss an Favres Fußballeinheit liegen, einem Verbund, der vor allem taktisch geprägt ist. Es geht um Pressing, Forechecking, Überzahl in Ballnähe, um Laufarbeit und Systemtreue.
Das ist alles auch nicht neu, aber die Spieler scheinen Favres System verinnerlicht, endlich kapiert zu haben nach einer langen Phase des Büffelns. Hier lag die Gefahr seines Scheiterns. Management und Präsidium hätten die Geduld verlieren, den netten Herrn Favre vor die Tür setzen können. Doch allen voran Dieter Hoeneß hielt zu ihm. Er gab ihm Zeit, Vertrauensvorschuss und die nötige Rückendeckung bei Angriffen der Medien. Es hat sich ausgezahlt, auch wenn Hertha nicht nach der Meisterschale schielt.
Ergebnis: 2:1 (1:0)
Hertha BSC: Drobny - Stein, Friedrich, Simunic, Rodnei (87. Cufré) - Dardai, Nicu - Ebert (90.+2 Chermiti), Babic - Raffael, Woronin (90. Domowtschijski)
Bayern München: Rensing - Lell (58. Borowski), Lucio, Demichelis, Lahm - Schweinsteiger, van Bommel, Zé Roberto, Ribéry - Klose, Toni (35. Donovan)
Schiedsrichter: Meyer (Burgdorf)
Zuschauer: 74 244 (ausverkauft)
Tore: 1:0 Woronin (38.), 1:1 Klose (61.), 2:1 Woronin (77.)
Gelbe Karten: Dardai (2), Raffael (2) / -
Beste Spieler: Drobny, Simunic, Woronin / Zé Roberto
Sie wollen vorerst bei ihrem Saisonziel bleiben: Uefa-Cup-Platz. "Wir sehen uns weiter als Verfolger. Wir kultivieren das, die Mannschaft ist geerdet", sagte Hoeneß. Er durfte freilich mit einer gewissen Befriedigung feststellen, dass bis dato der Plan übererfüllt wurde: "Wir sind viel weiter, als ich selbst gedacht habe", sagte er. Das heißt nichts anderes, als dass Hertha in naher Zukunft mehr will. Favre ist noch nicht fertig.
Gästetrainer Jürgen Klinsmann hielt interessanterweise nicht so viel vom Spiel der Herthaner, das war seinen doch recht abschätzigen Statements zu entnehmen. Vorbildwirkung habe Hertha für ihn nicht, ließ er wissen. Und nach den Rückschlägen der letzten Zeit müssten es die Bayern halt "ein paar Tage aufschieben", bis sie auf Platz eins der Tabelle rangierten. "Wir werden früher oder später oben stehen", sagte Klinsmann, "wir haben diesen Glauben." Aber hat Bayern tatsächlich ein Abo auf Platz eins? Wenn sie so spielen wie in Berlin, dann sicher nicht.
Und die Hertha? Huldigt wohl auch künftig dem, was sie am besten können: das Naheliegende tun, keinen nervösen oder gespreizten Fußball spielen, sondern einfachen, unprätentiösen. Die Spieler sind gut beraten, weiter diesem wundersamen Trainer zu folgen. Sie sollten seinen Weisheiten aus der frankophonen Schweiz lauschen. Am Samstag nach dem Coup sagte er: "Das war nur ein Spiel." Schlauer hätte ers nicht formulieren können.
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