TSCHECHIEN: DIE WUT AUF DEUTSCHLAND ZIELT EIGENTLICH AUF DIE EU: Rollensuche an der Moldau
Eigentlich kann man den Tschechen nicht gerade nationalistischen Überschwang nachsagen. Im Gegenteil, das tschechische Nationalbewusstsein ist geprägt durch eine Serie von Niederlagen – von der Zerschlagung der Hussitenbewegung im Jahr 1434 bis zum Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968. Doch nun ist in Prag mit einem Mal die nationale Wut entbrannt. Wenn die Bundesregierung ihre Politik gegenüber dem kleinen Nachbarstaat nicht ändert, wird Tschechien in wenigen Monaten einen Parlamentswahlkampf erleben, der bewusst auf antideutsche Töne setzt. Und erstmals gerät die Bevölkerungsmehrheit für den Beitritt zur EU in Gefahr.
Auslöser des landesweiten Unmuts ist dabei nicht allein die Berliner Aufforderung an Prag, das Atomkraftwerk in Temelín doch bitte stillzulegen. Vorangegangen ist die jahrelange Verzögerung der Entschädigung tschechischer NS-Zwangsarbeiter. Vorangegangen ist auch die ständige Forderung der bayerischen Landesregierung als Schutzmacht der Vertriebenenverbände, die Vertreibungsdekrete von 1945 aufzuheben – ein Anliegen, mit dem letztendlich sogar die Aufnahme Tschechiens in die EU blockiert werden könnte. Und dann ist da natürlich noch die Begrenzung der Freizügigkeit tschechischer Arbeitnehmer, die die Bundesregierung in Brüssel durchsetzte.
Andererseits ist die Prager Reaktion auf die Temelín-Note nicht nur übertrieben, sondern auch ungerechtfertigt. Denn die Regierung selbst hatte eine Stellungnahme aus Berlin erbeten. Und doch macht die Empörung die Probleme deutlich, die gerade die kleinen Staaten des Ostens schon vor der EU-Erweiterung damit haben, ihre eigene Rolle in diesem EU-Europa zu finden.
Als die Iren den Nizza-Vertrag ablehnten, der die Osterweiterung möglich machen soll, wurden in Prag nicht enttäuschte, sondern begeisterte Stimmen laut. Das Referendum habe gezeigt, dass auch ein kleiner Staat die große EU beeinflussen könne, schrieb etwa der bestimmt nicht für nationalistische Gefühle bekannte Senatspräsident Petr Pithart. Und doch wissen die Politiker in Prag genau, dass solche Fälle die Ausnahme sind. Die Zukunft sieht so aus: In einer Union mit 27 Mitgliedern wird Tschechien ebenso wie Slowenien oder Estland kein wirklich entscheidendes Wort mitzureden haben, anders als Polen, der größte Beitrittskandidat.
Mehr als je zuvor ist die politische und wirtschaftliche Entwicklung der kleinen mittel- und osteuropäischen Staaten somit von den großen EU-Mitgliedern und damit besonders von Deutschland abhängig. Das hat der Fall Temelín den Politikern in Prag wieder vor Augen geführt.
SABINE HERRE
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