TAZ-Serie Schillerkiez: Zukunft der Kids: "Kinderarmut ist hier recht weit verbreitet"
Viele Kinder kommen kaum aus dem Viertel raus - nicht mal ins Schwimmbad oder den Zoo, berichtet Birgit Lange, Leiterin des Kinderzentrums "Am Tower".
taz: Frau Lange, wie lässt sich das typische Schillerkiezkind beschreiben?
Birgit Lange: Zuerst mal ist es ein ganz normales Kind, mit ganz normalen Grundbedürfnissen nach Schutz, Unterstützung und Förderung wie jedes andere Kind auch. Aber viele Jungen und Mädchen haben hier sicherlich gemeinsame Problemlagen, die anderswo nicht so geballt vorliegen.
Zum Beispiel?
53, ist Leiterin des interkulturellen Kinder- und Elternzentrums "Am Tower" im Schillerkiez, direkt am Tempelhofer Feld. Bis zu 250 Kinder bis 15 Jahre werden hier nachmittags betreut. Der Tower beherbergt einen Wasserspielplatz, einen Bretterbuden-Dschungel, einen Sportplatz sowie im Winter einen Rodelberg. Im Haus gibt es ein Atelier, einen Computer-Medienraum und eine Werkstatt.
Zwischen Tempelhofer Feld und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Lange galt das Viertel am Rande des einstigen Flughafens als Arme-Leute-Gegend. Menschen aus vielen Ländern leben hier, die Arbeitslosenquote beträgt über 40 Prozent, der Kiez weist die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln auf.
Doch mit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit Mai 2010 ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; hier sollen laut Senat Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.
Droht dem Schillerkiez nun eine Welle von Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte fast beendet ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert, oder bleibt es bei ein paar Townhouses am Parkrand?
Sicher ist nur: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten. Seit Mai 2010 läuft das Projekt.
Kinderarmut ist im Schillerkiez recht weit verbreitet. Dazu können Schwierigkeiten wie alleinerziehende Elternteile, Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten kommen. Diese Kinder finden bei uns einen geschützten Raum. Und die Eltern finden einen Ort, wo sie mal Luft holen können.
52 Prozent der Schillerkiezler haben einen Migrationshintergrund. Wie funktioniert das junge interkulturelle Miteinander?
Wir haben hier vor allem arabische, türkische, albanische und jugoslawische Familien. Die Kinder sind bei diesem Zusammenspiel meist erfahrener als ihre Eltern, die oft noch mit der Sprachbarriere zu kämpfen haben. Die hier geborenen Kinder müssen dagegen von klein auf in ihren Kitagruppen und Schulklassen mit vielen Ethnien kooperieren.
Ist Jugendgewalt ein Problem im Schillerkiez?
Bei uns im Kinderzentrum noch nicht. Da kommen auch die hiesigen Familienbekanntschaften ins Spiel. Wenn sich ein Kind nicht benimmt, könnte das Gesprächsthema werden in der Community und auf seine Eltern zurückfallen. Das übt eine soziale Kontrolle aus.
Womit verbringen die Kinder im Schillerkiez ihre Freizeit?
Auch das ist so verschieden, wie Kinder eben sind. Viele kommen zu uns zum Tower, einige als Stammbesucher, andere nur zu bestimmten Angeboten. Parallel gibts noch andere Einrichtungen: die Warthe 60 mit einem gewaltpräventiven Fokus, der Jugendclub Yo!22, das Mädchencafé Schilleria. Manche Kinder lassen aber auch das links liegen. Die suchen und finden im Schillerkiez Räume ohne Kontrolle von Erwachsenen.
Wo hängen die Kinder denn ab?
Das können die Spielflächen an der Schillerpromenade sein oder auch Hinterhöfe, etwa in der Silberstein- und Siegfriedstraße.
Ist die Angebotsstruktur für Kinder im Schillerkiez ausreichend?
Ich denke, es kann nie genug sein. Alles, was wir nicht anbieten, schmälert die Förderungschancen der Kinder, von denen viele eine besondere Förderung benötigen, die ihre Eltern oft nicht leisten können.
Wo haperts denn?
Ich fände es zum Beispiel toll, unser Gelände in Richtung Naturkunde auszubauen, mit noch mehr Pflanzen, vor allem aber Tieren. Die fehlen hier im Schillerkiez gänzlich. Ganz wichtig wäre auch, den Kindern Möglichkeiten zu bieten, den Sozialraum zu verlassen. Viele Kinder kommen ja nicht mal ins Schwimmbad oder in den Zoo. Da bräuchten wir mehr Kapazitäten für Ausflüge und Kinderreisen.
Wohin würden Sie gerne mit den Kindern verreisen?
Brandenburg, Mecklenburgische Seenplatte, Ostsee - egal. Hauptsache, mal raus. Das muss ja nicht weit weg sein. Auch um den Familien zu zeigen, was auch mit wenig Geld möglich ist.
Wie nehmen die Kleinen das Tempelhofer Feld an?
Wir nutzen das Feld besonders zum Inlineskaten und allem, was rollt. Auch für unseren Towerlauf und die Drachenwerkstatt war das Areal super. Allgemein ist mein Eindruck aber, dass die Kinder dort eher mit ihren Eltern hingehen, zum Grillen etwa. Es gibt ja an sich auch keine Spielgeräte.
Seit der Eröffnung des Feldes ziehen immer mehr Besserverdienende in den Schillerkiez. Macht sich das in Ihrer Arbeit bemerkbar?
So richtig noch nicht. Ab und an verlaufen sich junge Eltern, die ich hier noch nicht gesehen habe, zu uns aufs Gelände. Eltern, die unseren Wasserspielplatz nutzen und ihre Kinder in die nahe gelegenen Kinderläden schicken.
Fehlen diese betuchteren Eltern etwa, weil sie wegziehen, sobald ihre Kinder in die Schule kommen?
Ich würde allen Kindern wünschen, dass diese jungen Eltern nicht gleich wieder wegziehen. Wohlgemerkt sind auch ausländische Eltern weggezogen, die für ihre Kinder einen höheren Bildungsanspruch haben. Übrig geblieben sind dann hier oft die, die sich woanders die Mieten nicht leisten können. Diese Segregation wieder zu durchmischen, fände ich wünschenswert.
Wird es dann künftig auch im Tower so was wie Kinderyoga und Chinesischfrühkurse geben?
Wir werden uns neuem Klientel jedenfalls nicht verschließen. Unsere Angebote entsprechen ja immer der Bedürfnislage der Besucherinnen und Besucher. Und wenn die sich ändert, ist es an uns, flexibel darauf zu reagieren und uns neue Angebote zu überlegen. Wir sind für alle offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann