Syrischer Journalist über die Lage in Homs: "Der Westen kann eingreifen"
Der syrische Journalist Ali al-Atassi über nicht ausgeschöpfte diplomatische Mittel, die Angst des Westens, die syrische Opposition und das Chaos, wenn Assad weg ist.
taz: Herr al-Atassi, Ihr Lebensmittelpunkt liegt heute in Beirut, aber Teile Ihrer Familie leben noch in Homs, Ihrer Geburtsstadt. Wie ist dort die Situation?
Ali al-Atassi: Ich habe seit Tagen keinen Kontakt mehr. Homs ist komplett abgeschnitten. Strom und Wasser wurden abgestellt und die Telefone gekappt. Noch vor einem halben Jahr habe ich geschrieben, dass ein Massaker wie 1982 in Hama mit geschätzten 25.000 Toten heutzutage nicht mehr möglich sein würde. Die Weltöffentlichkeit würde so etwas heute nicht mehr zulassen. Ich denke, ich habe mich getäuscht.
Wie lautet Ihre Prognose jetzt?
Die Assad-Regierung hat die gesamte Stadtbevölkerung von Homs in Geiselhaft genommen und will sie kollektiv und stellvertretend bestrafen. Und alle sehen zu. Die Gewalt kann ganz schnell noch eskalieren - und niemand wird den Syrern helfen.
Wird der Plan des Regimes aufgehen?
Militärisch kann die Regierung selbstverständlich gewinnen. Moralisch nicht. Die Revolution ist nicht mehr zu stoppen. Trotzdem profitiert das Regime natürlich von der Komplizenschaft der Welt mit Assad.
Alle Welt empört sich doch über die Brutalität von Assad, die UNO hat sie gerade verurteilt.
Das sind doch nur Worte, sie haben keine Konsequenzen.
Sie fordern Militärinterventionen?
Nein. Darum geht es nicht. Es gibt ja nicht nur Zusehen oder Bombardement. Seit elf Monaten sind die Schlächter von Assad auf den Straßen. Seit elf Monaten halten die Syrer dagegen, und es gibt keinerlei Hilfe: keine internationale Solidarität, kein Rotes Kreuz, keinen Roten Halbmond, kein Verbandszeug, nichts. Die Syrer sind komplett alleingelassen. Gleichzeitig wurden die diplomatischen Mittel nicht ausgeschöpft. Der UN-Sicherheitsrat hat die Anklagebehörde in Den Hag noch nicht mal gebeten, die Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschheit aufzunehmen.
Welches Interesse verfolgt "der" Westen mit seiner Passivität?
Der Westen hat Angst. Er will Syrien nicht weiter destabilisieren, denn immerhin grenzt das Land an Israel, den Irak und die Türkei. Geostrategisch sind wir also sehr wichtig: Syrien ist der Balkon des Nahen Ostens. 8.000 Tote, von denen wir bislang ausgehen, sind da nicht so wichtig. Für das Ausland dominiert dabei: Wenn Assad weg ist, dann bricht das Chaos in der Region aus. So wird völlig übersehen, dass in der Mehrheit die Proteste noch immer friedlich sind. Deshalb ist es auch falsch, von einem Bürgerkrieg zu sprechen. Assad führt einen Krieg gegen die Demonstrierenden, die Demonstrierenden selbst führen keinen Krieg.
Eine andere These lautet: Der Westen hält still, weil der israelisch-palästinensische Konflikt ungelöst ist. Leuchtet Ihnen diese Erklärung ein?
Unbedingt. Angesichts der Veränderungen in Tunesien und Ägypten liegt ein schneller Regimewechsel in Syrien nicht im Interesse der Führung in Jerusalem. Wenn nur die Spitze der Staates ausgetauscht wird, aber die Strukturen und das Militär intakt bleiben, verkompliziert das für Israel die Situation. Und käme es tatsächlich zu einer demokratischen Regierung in Syrien, dann müsste die viel sensibler auf die eigene Bevölkerung reagieren - etwa auf deren Empfinden beim Thema Golanhöhen. Das heißt nicht, dass Israel Assad direkt unterstützten würde, aber ich fürchte, dass es einige Lobbyisten auch in den USA gibt, die dafür plädieren, Assad gewähren zu lassen. Anders als die syrische Bevölkerung haben es die Israelis einfach überhaupt nicht eilig.
Ein häufig formulierter Einwand ist, dass die Opposition gespalten sei, es also in Syrien keine verlässlichen Gesprächspartner gebe.
Warum verlangt man von der syrischen Opposition, dass sie homogen ist? Sie ist genauso vielfältig, wie die syrische Gesellschaft vielfältig ist. Und trotz mancher Unterschiede sind sich alle einig, dass Assad gehen muss. Der syrische Oppositionsrat ist eine legitime und wichtige Stimme.
Die Situation erscheint Ihnen also nicht chaotisch?
Gemessen an den Umständen, nein. Trotz der jahrzehntelangen Diktatur hat sich eine starke, strukturierte Opposition im Land entwickelt. Außerdem: Bei keiner arabischen Revolution gab es einen Revolutionsführer, die Revolution ging immer von den Leuten aus. Das Ausland muss endlich akzeptieren, dass es neue Akteure gibt auf der politischen Bühne. Die Zeit der Diktatoren ist vorbei.
Welche Gesellschaftsmodelle werden jetzt für die Zeit nach Assad in der Opposition diskutiert?
Niemand will eine islamische Republik oder zurück zum Kommunismus. Das vorweg.
Auch in Ägypten und Tunesien spielten die Islamisten zunächst keine tragende Rolle - und nun sind sie an der Macht.
Jedes Land hat seine eigene Geschichte. In Syrien leben rund 30 Prozent Minderheiten. Die sind überhaupt nicht empfänglich für islamistische Konzepte. Die Mehrheit will anknüpfen an die kurze Periode zwischen 2000 und 2001, als Syrien eine echte Demokratieerfahrung gemacht hat. Die Regeln der Demokratie machen die Spielregeln aus. Das gilt bis heute.
Und worüber wird gestritten?
Ob es eine präsidiale oder parlamentarische Demokratie sein soll, ist eine der Fragen. Dann geht es natürlich um die Rechte der Minderheiten, vor allem um die der Kurden. Die schwierigste und wichtigste Aufgabe wird sein, Syrien vom Militär zu befreien.
Die Kurden werden vom Regime vergleichsweise geschont. Wird man sie nach dem Fall Assads als gleichberechtigte Bürger akzeptieren?
Ja. Assad hat versucht, die Gesellschaft zu spalten. Aber die Kurden haben sein Spiel nicht mitgespielt. Sie sind inzwischen Teil der Revolution. Auch wenn es in ausgewiesenen kurdischen Vierteln bislang keine größeren Massaker gab - auch auf Kurden wird bei Demos oder Beerdigungen geschossen. Auch sie bringen große Opfer, und auch sie wollen die Demokratie.
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