: Sven kuschelt nie
■ Für autistische Kinder und Erwachsene ist eine große Ambulanz eröffnet worden
Stundenlang sitzt Sven vor der laufenden Waschmaschine, stundenlang klopft er mit den Fingerknöcheln die Wände ab, brummt dazu, immer den gleichen Ton. Drei Jahre ist Sven jetzt alt. Die Fremdheit des Kindes machte der Mutter schon zu schaffen, als Sven noch ein Baby war: Merkwürdig schlaff lag er in ihrem Arm, kuschelte so gar nicht. Drehte sich gar weg, wenn sie sich dem Kinderbettchen näherte. „Ach, das legt sich, er ist eben ein Spätentwickler“, sagte der Kinderarzt. Es legte sich nicht.
Sven hatte trotzdem Glück: Er lebt in Bremen und damit in der Nähe einer der insgesamt 19 deutschen Ambulanzen für autistische Kinder. Vor 22 Jahren gründete eine Elterninitiative die Bremer Ambulanz in beengten Räumen, gestern feierte man die Einweihung eines großen Hauses in Schönebeck (Tel: 625606). Sven hatte Glück, denn er wurde schon mit drei Jahren als autistisches Kind entdeckt und konnte entsprechend früh gefördert werden. Bundesweit werden nämlich nur etwa 20 Prozent der AutistInnen als solche entdeckt, die meisten gelten als irgendwie geistig behindert und werden also nicht speziell gefördert. In Bremen liegt die Dunkelziffer immerhin bei nur 50 Prozent. Hier sind 30 AutistInnen bekannt.
„Autistisch?“ Für Svens Mutter brach die Welt zusammen. Hatte sie nicht gelesen, daß autistische Kinder von ihren Müttern vernachlässigt worden sind? So die These zum Beispiel von Bruno Bettelheim. „Dann müßten ja viel mehr Heimkinder autistisch sein“, sagt der Psychologe Voker Helbig, der Leiter der Bremer Ambulanz. Bis heute sind die Ursachen des sogenannten Frühkindlichen Autismus nicht geklärt. Relativ einig allerdings ist man sich heute in der Erklärung des psychischen Rückzugs der Kinder: AutistInnen leben nicht deshalb so auf sich selbst zurückgezogen (Griech. autos = selbst), weil sie nicht genügend geliebt werden, sondern weil ihre Wahrnehmungsverarbeitung gestört ist: Die Welt erscheint ihnen als Chaos.
„Normale“ Babies lernen, daß ein und derselbe Gegenstand verschiedene Sinnesqualitäten hat: Die „Flasche“ ist rund, warm, süß und macht satt. Und wenn ein großer Schatten ans Bett tritt und sagt „Jetzt kriegst du die Flasche“, ist das nichts Bedrohliches, sondern prima. Das autistische Kind schafft diese Verbindung zwischen Schatten und Flasche und Wohlsein nicht, es wendet sich ab oder reagiert überhaupt nicht. Sein Gehirn integriert die verschiedenen Wahrnehmungen nicht, bildet keine biochemischen Vernetzungen. Meist entwickeln autistische Kinder nur einen Sinn sehr fein, meist den optischen.
Der elfjährige Sascha zum Beispiel „hörte“ nicht, taub war er aber nicht. Er „verstand“ die Menschen nur, indem er sehr genau beobachtete, was sie taten. Nach anderthalb Monaten sensorischen Integrationstrainings in der Ambulanz der Druchbruch: Vor Sascha stehen zwei Tassen und zwei Wecker. Der Psychologe steht hinter Sascha. Sascha kann ihn nur hören. „Sascha, gib mir die Uhr.“ Sascha greift um die Tasse herum zum Wecker. „Ganz toll“, wird er gelobt. „Das ist hartes Training, aber die Kinder arbeiten unheimlich gern“, sagt Herrmann Cordes, Vorsitzender des Vereins, selbst Vater einer autistischen Tocher. Der Kommunikationswille sei nämlich da, aber eben auch die Angst vor der ungeordneten Welt.
Die Kinder halten sich an einfachen, meist nebensächlichen Strukturen ihrer Umwelt fest: sie vermeiden den schwierigen emotionalen Kontakt zu Menschen, interessieren sich eher für deren Brille und Haare, essen nur braune oder nur flüssige Speisen ... Das gibt ihnen Sicherheit. Das macht sie gleichzeitig für andere so irritierend und so unheimlich. Mit großem Befremden reagiert die Umwelt auf die so normal aussehenden und so merkwürdig agierenden autistischen Kinder. „Vielleicht sind sie am glücklichsten, wenn man sie einfach in Ruhe läßt“, so eine gängige Erklärungsvariante.
Auch das ein Grund, daß sich 1972 Bremer Eltern zusammengeschlossen haben zum Verein „Hilfe für das autistische Kind“. Die Initiative gründete eine Sonderklasse für autistische Kinder, einen Bauernhof für erwachsene AutistInnen und eine Ambulanz für Früherkennung und Therapie. Für die Ambulanz hat der Verein nun endlich ausreichend große Räume in Schönebeck gefunden: Kein Straßenlärm stört hier die schwierige therapeutische Arbeit, niemand latscht quer durch ein Gespräch über die Eheprobleme eines Elternpaars, Motoriktraining muß nicht im Flur abgehalten werden – stattdessen lockt ein großer Raum mit einem Sensibilitätspfad, bestehend aus Sisalvorlegern, Watte, Flokati, Gummimatte ...
Heilung kann das sechsköpfige TherapeutInnenteam nicht anbieten, aber Fortschritte. Und das bedeutet immer auch weniger Angst für die AutistInnen. Die 17jährige Verena zum Beispiel, die nicht sprechen kann, lernt ihre „chaotische“ Umwelt mit Handzeichen zu beeinflussen: „Ich“, sie tippt sich an die Brust, „möchte“, sie reibt sich den Bauch, „ein Brot“, sie zeigt die flache Hand. Die Psychologin lobt, Verena strahlt. Von wegen: Die sind am glücklichsten, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Christine Holch
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