Sürücü-Prozess: "Nicht genug ermittelt"
Die Juristin Seyran Ate glaubt nicht an die Alleintäterschaft des jüngsten Bruders von Hatun Sürücü.
taz: Frau Ates, der Fall um die ermordetet Berliner Deutschkurdin Hatun Sürücü wird neu aufgerollt. Haben Sie damit gerechnet?
Seyran Ates: Ich habe mit diesem Urteil überhaupt nicht gerechnet und bin positiv überrascht. Ich habe eher gedacht, dass es nicht ausreichende Verfahrensfehler geben wird, darum ging es ja auch bei diesem Revisionsantrag.
Warum hat der BGH dem Revisionsantrag stattgegeben?
Wenn der BGH von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Verfahrensfehler sieht, dann ist er gezwungen, das Verfahren wieder aufzunehmen. Dabei handelt es sich um eine formale Angelegenheit, das Gericht ist dann verpflichtet, das Verfahren neu aufzurollen.
Denken Sie, eine Aufnahme des Verfahrens könnte zu neuen Erkenntnissen führen?
Ich glaube, in dem Fall wurde bisher nicht genug ermittelt. Jetzt werden die Familienstrukturen wieder neu durchleuchtet. Es muss geschaut werden, ob nicht auch andere Täter in Betracht kommen. Denn es kann nicht sein, dass nur Ayhan Sürücü solch eine Tat alleine geplant hat.
Ayhan Sürücü, der Jüngste, hat aber als Einziger die Tat gestanden. Sie vertreten die These, dass ein solcher Ehrenmord nicht von einer einzelnen Person geplant werden kann. Warum?
Ein "Ehrenmord" zeichnet sich dadurch aus, dass nicht nur die Ehre einer einzelnen Person, sondern einer ganzen Familie verletzt wird. Das hat Ayhan Sürücü ja auch als Grund genannt für den Mord. Dass seiner Ansicht nach das sexuelle Fehlverhalten seiner Schwester der Familie Schande bereitet hat. Die Struktur und die Definition von Ehre ist in solchen Familien derart komplex, dass es unmöglich ist, dass sich nur ein Einzelner in seiner Ehre verletzt fühlt und dann auch handelt. Darum liegt die Vermutung nahe, dass auch andere Familienmitglieder an der Tat beteiligt waren.
Die junge Frau hat ein selbstbestimmtes Leben geführt. Was ist denn daran "ehrverletzend"?
Die Ehrverletzung lag in erster Linie darin, dass sie nach ihrer Scheidung Sexualpartner hatte. Sie hat sich ihre Liebesbeziehungen frei gesucht. Weil sie genau das getan hat, wurde sie als "Schande" betrachtet.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!