: Stühle reden nicht Von Manfred Riepe
„Das Fernsehen ist eine Leiche“, sagte unaufgefordert dieser Typ, der, wie mir mein Freund Paul später erklärte, in irgendeiner südamerikanischen Diktatur daran beteilig war, einen Fernsehsender mit aufzubauen. Um diesen Sachverhalt auszudiskutieren, tranken wir acht Grappa. Dann bemerkten wir, daß wir in Wahrheit wieder nur den ganzen Tag mutterseelenallein zu Hause auf dem Sofa verbracht hatten.
Um das Eintreten der Nüchternheit zu begünstigen, schaltete ich den Fernsehapparat ein. Nachmittagsprogramm. Der geschäftige Optimismus, mit dem ein schmalschultriger Mann mit Prinz-Eisenherz-Frisur quadratische Gleichungen löste, erschien mir unverständlich. Schräg hinter ihm wurden mathematische Symbole auf eine blaue Tafel projiziert. Mit dem Finger deutete er auf ein Zeichen, das sich darauf in ein anderes wandelte. Diesen Trick erklärte er nicht. Im Nachbarprogramm hatten sich unterdessen zwei Männer als Platon und Aristoteles verkleidet. Sie saßen auf griechischen Pappmachésäulen und diskutierten darüber, warum man diskutiert. Meine Argumente wurden ignoriert. Ich schaltete den Apparat wieder ab.
In der Post fand sich ein Schreiben der Fahrzeugversicherung, die mir mitteilte, daß sie die Kosten des entwendeten Autoradios nicht erstatte. Nicht weiter schlimm, dachte ich. Das Radio lagert unter einem Stapel alter Decken im Keller. Problematisch war die Zahlungsverweigerung nur, weil ich mit genau dem Geld die überfällige Kfz-Versicherung begleichen wollte. Daß ich diese Zahlung bislang unterlassen hatte, war der Grund für die Versicherung, ihre Leistungen nicht zu erbringen...
Es gibt Tage, an denen einiges schiefgeht. Doch als ausgerechnet mein Stuhl anfing zu sprechen, war ich irritiert. Im Katalog stand nicht, daß Möbel sprechen. Mein Stuhl sagte: „Das Fernsehen ist eine Leiche...“ Worauf ich ihn anschrie. Denn das war mein Text. Darauf murmelte er: „Anlage N: Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit. Anzahl der Tankbelege 1990: zwei. Lächerlich.“
Ich wollte meinen Stuhl zurechtweisen, doch es klingelte an der Tür. Ein adrett gekleideter junger Herr versuchte mich in ein Gespräch über Jehova Gott zu verwickeln. Ich erinnerte mich, aus Monthy Python's „Das Leben des Brian“ zu wissen, daß man den Namen „Jehova“ nicht aussprechen darf, weil man sonst gesteinigt wird. Bevor ich den Mann Gottes darauf hinweisen konnte, läutete das Telefon. Ich mußte mich beeilen, denn nach dem dritten Signalton schaltet sich der Anrufbeantworter ein. Was er auch tat...
Ich schickte den Gläubigen fort und geriet für Stunden ins Grübeln. Zeit verging. „Entschuldigung“, sagte jemand neben mir, und ich erschrak, denn es war nicht der Stuhl. Zu meiner Verwunderung stand der Zeuge Jehovas neben mir, den ich vor Stunden zum Teufel geschickt hatte. „Nein“, sagte er, obwohl ich nichts gesagt hatte. „Ich komme nicht von den Zeugen, sondern von der Gebühreneinzugszentrale (GEZ) und muß hier im Moment feststellen, daß Sie unangemeldete Rundfunkgeräte betreiben.“
Wie in Trance griff ich zur Fernbedienung und schalte den laufenden Apparat ab. Und siehe da: Auch der Mann von der GEZ verschwand. Mein Stuhl kicherte.
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