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Archiv-Artikel

Strohfeuer der Erinnerung

Stuttgart tat sich mit dem Erinnern an seine NS-Vergangenheit immer wieder schwer. In den 80er-Jahren leistete ein aufsehenerregendes Ausstellungsprojekt die bis dato umfangreichste Aufarbeitung – und wurde abrupt abgebrochen

von Oliver Stenzel

Am 15. Februar 1933 besucht Adolf Hitler Stuttgart. Gut zwei Wochen nachdem er zum Reichskanzler ernannt worden ist, will er in der Stadthalle eine Grundsatzrede halten. Sie wird ins ganze Reich übertragen. Doch kurz nach Beginn der Übertragung kappen vier junge Kommunisten mit der Axt das Rundfunkkabel.

Noch heute hört man bisweilen die Geschichte, Hitler habe aus Verärgerung über diesen Vorfall Stuttgart nie wieder besucht. Und meist folgt im nächsten Atemzug der Schluss, die Stuttgarter seien eben zu renitent, zu liberal gewesen, um dem Führer der Nationalsozialisten die sonst verbreitete Bewunderung zuteilwerden zu lassen. Eine Legende. Hitler war noch mindestens viermal in Stuttgart, gleich fünf Monate später anlässlich des Deutschen Turnfests und zuletzt bei einem Staatsbesuch am 1. April 1938.

„Stuttgart war im Großen und Ganzen eine normale Stadt in Bezug auf die NSDAP. Weder eine Hochburg der Nazis noch besonders widerständig“, sagt der Journalist und Historiker Karlheinz Fuchs, der als Projektleiter in den 80er-Jahren die Ausstellungsreihe „Stuttgart im Dritten Reich“ organisierte, die bis dahin umfangreichste Auseinandersetzung der Stadt mit ihrer NS-Vergangenheit. „Wir haben versucht, Legenden zu widerlegen“, so Fuchs, Legenden wie die von den Folgen des Kabelattentats. Zugleich wollten die Ausstellungsmacher am Beispiel der Landeshauptstadt exemplarisch zeigen, wie es zum Nationalsozialismus kam.

Ähnliche Ansätze gab es damals in vielen Städten. Meist gingen sie auf Forderungen aus der Bürgerschaft zurück. In Köln wurde die Forderung der Bürger Ende der 80er-Jahre umgesetzt. Die Stadt hat das EL-DE-Haus, in dem früher die Gestapo untergebracht war, als Lern- und Gedenkort eingerichtet. Es wird inzwischen jährlich mit rund zwei Millionen Euro gefördert, verzeichnet beständig steigende Besucherzahlen in den letzten Jahren deutlich über 50.000 , räumt für sein Bildungsangebot und seine Sonderausstellungen regelmäßig Preise ab und hat sich auch als Forschungseinrichtung einen Namen gemacht.

Auch in Stuttgart hätte mit dem „Projekt Zeitgeschichte“ eine Dauereinrichtung entstehen können. Doch zunächst beschäftigte man sich in der Landeshauptstadt mit der Chronik für die Jahre 1933 bis 1945 und mit den Legenden um den NS-Oberbürgermeister Karl Strölin.

Wie aus überzeugten Nazis Widerstandskämpfer wurden

Nach dem Krieg stilisierte sich der Ex-OB zum Kämpfer gegen einen allzu starken Zugriff der Nazis auf Stuttgart. Doch Strölin war ein überzeugter Nazi, der von Anfang an versuchte, den NS-Staat in allen Bereichen der Stadt durchzusetzen. In der 1983 veröffentlichten Chronik der Stadt Stuttgart für die Jahre 1933 bis 1945 entsteht indes der Eindruck, bei Strölin habe es sich um einen Widerstandskämpfer gehandelt. Stadtarchivdirektor Kurt Leipner hatte ab 1973 einen Tageskalender auf der Basis der gleichgeschalteten lokalen NS-Presse verfasst; er zog keinerlei Akten oder sonstige Dokumente heran. Begründung: Diese seien im Krieg vernichtet worden – was aber längst nicht für alle zutraf.

Als Erster kritisierte 1979 der parteilose Stadtrat Eugen Eberle die Konzeption der Chronik: Sie stelle keinerlei Zusammenhänge her und enthalte sich jeder Wertung der Ereignisse, sagte Eberle, den die Nazis 1933 für kurze Zeit ins KZ auf dem Heuberg gesteckt hatten, da er Kommunist war. Zudem, so Eberle, blieben die Opfer des Regimes außen vor. Eine Chronik aus Tätersicht. Die Stadtverwaltung stellte sich hinter Leipner, wurde nun aber dank Eberle auch von beiden Stuttgarter Zeitungen sowie bundesweit kritisiert. „Vergessene Schande“ titelte zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung.

Der Streit zog sich über mehrere Jahre hin, im Gemeinderat kam aber nie eine Mehrheit zustande, um die Chronik zu stoppen. Als Eingeständnis des Versagens wurde aber allgemein gewertet, dass die Stadtverwaltung um 1980 begann, Projekte zur Geschichte der NS-Zeit in Stuttgart finanziell zu unterstützen. Dazu gehörten die Doktorarbeit „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“ des heutigen Stadtarchivars Roland Müller nach wie vor die umfassendste Monografie dieser Jahre und die fünfteilige Ausstellungsreihe „Stuttgart im Dritten Reich“ des „Projekts Zeitgeschichte“, die ab 1982 im Tagblattturm gezeigt wurde.

Ab 1980 arbeiten drei Wissenschaftler unter der Leitung von Karlheinz Fuchs und zahlreiche freie Mitarbeiter an dem Projekt, Oberbürgermeister Manfred Rommel rief die Bevölkerung auf, für die Ausstellungsreihe Material als Leihgabe oder als Geschenk zur Verfügung zu stellen; Stuttgart wolle, so die Ankündigung, als erste deutsche Großstadt eine zeitgeschichtliche Sammlung einrichten. 4.000 Objekte kamen schließlich zusammen.

Im August 1982 begann die erste von fünf Ausstellungen, die insgesamt rund 75.000 Besucher sahen und die auch im Ausland Beachtung fanden. „Wir waren damals in vielem Vorreiter, haben mit Videos und Tondokumenten gearbeitet, das war damals noch nicht üblich“, erinnert sich Fuchs.

Doch das neu erwachte historische Gewissen der Stadt entpuppte sich als Strohfeuer. Aus bemerkenswert kleinlichen finanziellen und tarifrechtlichen Gründen wurde die Ausstellungsreihe 1984 abgebrochen: Da im März 1984 die Zeitverträge der wissenschaftlichen Mitarbeiter ausliefen, fürchtete die Stadtverwaltung, bei einer weiteren Beschäftigung könnten die drei Historiker Planstellen einklagen. Zu teuer – im Gemeinderat fand sich keine Mehrheit für eine Vertragsverlängerung.

Schuster: NS-Projekt wird keine Dauereinrichtung

Um das Dilemma zu lösen, regte Fuchs die Gründung eines Vereins an, unter dessen Dach das Projekt weitergeführt werden könnte, finanziert von Stadt, Land und privaten Trägern – etwa 500.000 Mark pro Jahr seien dafür nötig gewesen. „Für uns gibt es keine Möglichkeit, das zu finanzieren“, erklärte damals der persönliche Referent von Rommel, Wolfgang Schuster, gegenüber der Stuttgarter Zeitung. Hatte im Vorfeld Rommel eine dauerhafte Sammlung in Aussicht gestellt, erklärte nun Schuster, dass „das Projekt Zeitgeschichte […] von der Anlage her keine Dauereinrichtung ist“.

So endeten die Verträge von Fuchs und seinen Mitarbeitern am 31. März 1984, kurz nachdem die fünfte Ausstellung „Anpassung, Widerstand, Verfolgung“ eröffnet wurde. Die bereits geplante Ausstellung „Stuttgart im Krieg“ konnte erst 1989 stattfinden unter neuer wissenschaftlicher Leitung.

Noch heute hält Fuchs die Begründungen der Stadt für das Projekt-Aus für vorgeschoben: „Das waren ideologische Gründe.“ CDU, FDP und Freien Wählern habe das ganze Projekt von Anfang an nicht gepasst, ihnen sei „alles zu links, zu sehr von der Arbeiterwarte her dargestellt gewesen“. Zudem habe man Namen bekannter Familien genannt und personelle Kontinuitäten von der NS- zur Nachkriegszeit dargestellt. Das habe die Konservativen offensichtlich überfordert, sagt Fuchs, der sich noch gut an eine Szene kurz vor einer Ausstellungseröffnung erinnert: „Der damalige Kulturamtsleiter Fritz Richert kam rein und sagte gleich: Ouh, das gibt Ärger.“

Mehrere Ausstellungen hätte man noch mit dem gesammelten Material realisieren können, so Fuchs. „Unser Ehrgeiz war groß, der Abgang und die Würdigung des Projekts in der Stadt waren im Großen und Ganzen armselig.“

So wurde aus der erhofften zeitgeschichtlichen Sammlung nichts, die Ausstellungsstücke verschwanden größtenteils, wohin, weiß heute keiner mehr. Von insgesamt über 4.000 gesammelten Objekten gelangten nur 1.100 ins Stadtarchiv. Vom Rest sind die Spuren verwischt, da die meisten Objekte Leihgaben waren und in der abrupten Abwicklung der Ausstellung kein Verzeichnis der Leihgeber gemacht wurde.

Das 1984 so schnell erlahmte Engagement der Stadtverwaltung hat nun für die Planer des 2016 eröffnenden Stuttgarter Stadtmuseums im Wilhelmspalais die absurde Folge, dass sie für den Bereich zur NS-Zeit wieder von vorne zu sammeln beginnen mussten. „Es ist nicht wirklich viel da“, sagt Anja Dauschek, Leiterin des zum Kulturamt gehörenden Planungsstabs, das Ausstellungsprojekt aus den 80ern sei nur dürftig dokumentiert „wir haben 2010 mit ganz grundlegender Recherche neu angefangen“. Mittlerweile seien immerhin 66 Objekte für die geplante Dauerausstellung zusammengekommen, die vermutlich aus der alten Ausstellungsreihe stammen.

Nach den kurzlebigen Anstrengungen in den 80er-Jahren hat sich die Stadt aus eigenem Antrieb nur noch wenig mit der NS-Vergangenheit beschäftigt. Eine Ausnahme bildete, wiederum zunächst von Stadtrat Eberle angeregt, das Besuchsprogramm für Stuttgarter Juden, die in der NS-Zeit emigriert waren. Zwischen 1983 und 2001 besuchten auf Einladung der Stadt mehr als 600 ehemalige jüdische Mitbürger ihre frühere Heimat; zuletzt wurden auch frühere Zwangsarbeiter eingeladen; das von Rommel anfangs skeptisch betrachtete Projekt erwies sich als Glücksfall. Doch abgesehen davon ging jedes weitere Engagement von Bürgerinitiativen und Einzelpersonen aus. Zum Beispiel die mittlerweile 700 vor ihrem früheren Wohnhaus verlegten Stolpersteine, die an Menschen erinnern, die von den Nazis umgebracht wurden.

Oder die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ am Nordbahnhof. Von hier aus wurden zwischen 1941 und 1945 mehr als 2.500 Juden, Sinti und Roma aus Württemberg-Hohenzollern deportiert, um später meist in Konzentrations- und Vernichtungslagern umgebracht zu werden. Seit 2006 steht hier die Gedenkstätte, 2001 hatte die Stiftung Geißstraße Sieben das Projekt initiiert, doch zunächst musste die Stadt in langen Verhandlungen überzeugt werden, das Gelände nicht als Baugrund zu verkaufen. „Das war keine ideologische Diskussion, es ging nur um die Frage, ob uns die Stadt das Grundstück, das ziemlich viel wert ist, überlässt“, erinnert sich der Stiftungsvorsitzende und Grünen-Stadtrat Michael Kienzle. Der Architekt Roland Ostertag, Vorsitzender des Trägervereins der Gedenkstätte, bemängelt die mangelnde historische Sensibilität der Stadt: „Wir haben große Mühe gehabt, die Stadt zu überzeugen.“

Lern- und Gedenkort statt Hotel- und Handelszentrum

Viel bürgerschaftlichen Engagements bedurfte es auch, den Abriss der ehemaligen Gestapo-Zentrale für Stuttgart und Württemberg-Hohenzollern, das „Hotel Silber“ in der Dorotheenstraße, abzuwenden. 2008 wurde bekannt, dass das Gebäude einem Büro-, Hotel- und Handelskomplex weichen solle. Um dies zu verhindern, gründete sich im Oktober 2008 die Initiative „Lern- und Gedenkort Hotel Silber“. Ihr Ziel: im erhaltenen Gebäude einen integrierten Gedenk-, Lern-, Dokumentations- und Forschungsort einzurichten, ähnlich wie das EL-DE-Haus, das Kölner NS-Dokumentationszentrum.

Entscheidend war letztendlich, dass die Initiative sowohl die Gemeinderats- als auch die Landtagsfraktion der SPD aufseiten der Abrissgegner zog. Kurz nach der Landtagswahl im März 2011 erklärte SPD-Landeschef Nils Schmid die Rettung des Hotel Silbers und die Einrichtung eines Gedenkorts zur Chefsache, im Juni 2011 war der Abriss endgültig abgeblasen.

Seitdem hat sich allerdings wenig Substanzielles getan. Das Land erwartet eine finanzielle Beteiligung der Stadt, das wiederum lehnte der damalige OB Wolfgang Schuster ab: Eine künftige Gedenkstätte sei allein Sache des Landes. Während des Wahlkampfs im vergangenen Jahr hatte sich der neue Stuttgarter OB Fritz Kuhn klar positioniert: Er sei dafür, dass die Stadt die Hälfte der Erstausstattung sowie der Betriebskosten für einen Gedenkort tragen solle.

Ein Blick über den Kesselrand könnte auf die Sprünge helfen: München lässt sich sein NS-Dokumentationszentrum derzeit rund 28 Millionen Euro kosten.