Streitgespräch zum Volksentscheid: "Pro Reli zerschlägt das Schulfach Ethik" - "Das ist jetzt ein Kampfbegriff"
Wer darf Werte für den Schulunterricht definieren? Ein Gespräch über Ethik und Religionsunterricht zwischen dem Humanisten Werner Schultz und dem evangelischen Christen Rolf Lüpke.
taz: Herr Lüpke, nennen Sie uns fünf Werte, die den evangelischen Religionsunterricht ausmachen.
Rolf Lüpke: Da kommen wir ja gleich zum Kern der Sache. Es geht um die Achtung des Lebens, um Menschenwürde, um Frieden, die Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit.
Herr Schultz, welches sind die fünf wichtigsten Werte des Ethikunterrichts?
ROLF LÜPKE
Alter: 69
Beruf: Pfarrer
Funktion: Als Kirchenschulrat habe ich mich lange um die Organisation des evangelischen Religionsunterrichts in Berlin gekümmert, zum Beispiel um die Einstellung der Lehrkräfte. Inzwischen bin ich im Ruhestand.
Wie stimmen Sie ab? Natürlich mit Ja.
Was machen Sie am Sonntag? Morgens in die Kirche gehen. Ins Wahllokal muss ich nicht mehr: Abgestimmt habe ich schon per Briefwahl. Und abends werden wir sicher feiern.
WERNER SCHULTZ
Alter: 58
Beruf: Diplompädagoge
Funktion: Ich leite beim Humanistischen Verband in Berlin die Abteilung Bildung und organisiere den Lebenskunde-Unterricht, den der Verband anbietet
Wie stimmen Sie ab? Natürlich mit Nein
Was machen Sie am Sonntag? Abends zur Wahlparty gehen. Glauben Sie mir: Nach dem Volksentscheid bin ich urlaubsreif.
Werner Schultz: Im Schulgesetz sind diese Werte ganz klar formuliert: Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit der Geschlechter, Kritik von Rassismus und Antisemitismus. Das sind große Werte, die von unserer Verfassung getragen werden.
Das klingt gar nicht so unterschiedlich. Nehmen wir einen konkreten Fall. Wenn ein Schüler fragt: "Ist der Mensch für sein Glück selbst verantwortlich?" Wie antwortet darauf der Religions-, wie der Ethiklehrer?
Lüpke: Der Religionslehrer würde sicherlich die Verantwortung des Einzelnen betonen. Auf der anderen Seite würde er deutlich machen, dass die menschliche Autonomie nicht unbegrenzt ist. Dass, wie in der Bibel steht, der Mensch der Sünde verfallen ist. Dass er immer wieder scheitert, aber aus dem Scheitern umkehren und zurückfinden kann.
Schultz: Wenn es heißt, der Mensch ist der Sünde verfallen, dann finde ich das skandalös. Die Kirche kann das natürlich für ihre Mitglieder sagen, das ist ihr gutes Recht. Aber das von allen Menschen zu behaupten, halte ich für anmaßend. Der Ethikunterricht kann höchstens darüber berichten, dass es Religionen gibt, die den Menschen als prinzipiell sündhaftes Wesen sehen.
Die Frage ist: Wer darf die Werte setzen? Staat oder Kirche?
Schultz: Eine Gesellschaft muss einen Werte-Konsens entwickeln, der für alle gilt. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Religion und Ethik: Eine religiöse Werteerziehung kann ihre Position nur für ihre Glaubensgemeinschaft formulieren und hoffen, dass das für andere auch attraktiv ist. Der Staat aber muss Werte benennen, die für jeden in diesem Staat gelten. Auch für die Religionen.
Lüpke: Sicher gibt es Werte, die für alle verbindlich sind. Menschenrechte gehören dazu, Rechtstreue könnte man nennen. Viel mehr ist es dann aber auch nicht. Und wenn es um Lebenskonzepte geht, hat der Staat meiner Meinung nach nichts vorzugeben. Wenn Ethik es sich gar zur Aufgabe macht, Religionen zu interpretieren und zu relativeren, überschreitet das Fach aus der Sicht der Kirchen seine Kompetenzen. Woher bekommt der Ethikunterricht da die Zuständigkeit?
Schultz: Aus der Philosophie, aus den Religionswissenschaften, aus den Gesellschaftswissenschaften.
Lüpke: Das ist alles eine Außeninterpretation, die dem Recht der Selbstinterpretation, der authentischen Darstellung widerspricht.
Schultz: Niemand will in Berlin den Religionsunterricht abschaffen. Entscheidend aber ist, dass ein staatlicher Ethikunterricht etwas anderes ist als der Bekenntnisunterricht. Die verschiedenen Positionen vorzustellen, sie zu reflektieren und diskutieren, ohne Partei zu werden. Das gehört zum professionellen Selbstverständnis eines jeden Ethiklehrers.
Kein Unterricht ist wertneutral. Kann der Staat dieser herausgehobenen Position, wie Sie sie beschreiben, überhaupt gerecht werden?
Schultz: Um Wertneutralität geht es nicht, die Werte der Verfassung sollen natürlich gelehrt werden. Aber die Schule hat nicht die Aufgabe, einen Glauben, ein Bekenntnis zu vermitteln. Sie kann den verschiedenen Bekenntnissen nur ihren Ort geben. 30 Prozent der Berliner sind noch Mitglied in den christlichen Kirchen, wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft mit 130 Religionen. Gerade hier besteht die besondere Notwendigkeit, ein Fach zu haben, in dem die Jugendlichen zusammen über die verschiedenen Bekenntnisse nachdenken. Sie sollen lernen zuzuhören und zu verstehen, was der andere denkt.
Herr Lüpke, was ist so schlimm an der jetzigen Regelung, dass alle gemeinsam in Ethik über Werte diskutieren?
Lüpke: Es ist überhaupt nichts Schlimmes daran. Die Schwierigkeit ist aber, dass die Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht in den Klassen sieben bis zehn zusätzlich erfolgt, und dass diese Zusätzlichkeit den Religionsunterricht in den Randbereich der Schule abdrängt. Ethik dagegen ist Pflichtfach. Damit erhält ein a-religiöser Zugang zu ethischen Fragen Vorrang gegenüber einer religiösen Perspektive. Es geht um diese Benachteiligung des Religionsunterrichts.
Hinter "Pro Reli" steht also die Angst der Kirche, dass der Nachwuchs wegläuft?
Lüpke: Nein, überhaupt nicht. Der Nachwuchs wird vor allem innerhalb der Gemeinden an die Kirche herangeführt. Es geht uns um die Organisierbarkeit des Religionsunterrichts.
Schultz: Natürlich geht es den Kirchen bei "Pro Reli" auch darum, die Kinder im Religionsunterricht zu halten und noch mehr dafür zu gewinnen. Das ist auch völlig legitim, da habe ich nichts dagegen. Es gibt aber noch eine andere Motivation der Kirchen für diese Initiative, die man nicht verschweigen sollte. Im Moment bekommen die Religionsgemeinschaften wie auch wir vom Humanistischen Verband 90 Prozent der Kosten für den Unterricht erstattet. Das bedeutet für die Kirchen: Sie müssen zusammen etwa 5 Millionen Euro jedes Jahr dazulegen, wir etwa 1,2 Millionen. Das macht Mühe. Wenn Pro Reli gewinnt, haben die Kirchen jedes Jahr 5 Millionen Euro mehr zur Verfügung.
Lüpke: Dadurch bekommen die Kirchen ja nicht mehr Geld, sie können das Geld nur anders verwenden. Glauben Sie mir: Das finanzielle Argument ist nicht vorrangig.
Herr Schultz, Finanzen hin oder her: Was wäre so schlimm daran, wenn es Religion als Wahlpflichtfach neben Ethik gäbe?
Schultz: Im Moment können die Schüler sowohl Ethik als auch Religion besuchen. Wenn Pro Reli gewinnt, müssen sie sich zwischen beiden Fächern entscheiden. Pro Reli ist dabei, ein staatliches Schulfach zu zerschlagen.
Lüpke: Das ist jetzt ein Kampfbegriff, Herr Schultz. Natürlich soll auch das Fach Ethik erhalten bleiben.
Schultz: Es gibt noch ein anderes Problem: In Berlin haben in der Gruppe der 6- bis 15-Jährigen über 42 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Der weitaus größte Anteil davon ist muslimisch. Diese Jugendlichen würden einen islamischen Religionsunterricht wählen und sich von Ethik abmelden. Was genau im Islamunterricht geschieht, kann vom Staat nicht bestimmt werden, das bestimmt die Religionsgemeinschaft. Ich kenne islamische Positionen, bei denen ich Zweifel habe, ob demokratische Vorstellungen, ob das Verhältnis von Männern und Frauen, das Problem von Antisemitismus und Homophobie da so gelehrt wird, wie es der Ethikunterricht kann.
Lüpke: Ich würde daraus die umgekehrte Konsequenz ziehen. Das fordert doch geradezu dazu auf, islamische Traditionen in einem ordentlichen Unterrichtsfach zum Thema zu machen. Und zwar in einer Art und Weise, dass es der Kritik- und Vernunftfähigkeit folgt. Wenn ein Moslem glaubt, dass Homosexualität eine göttliche Strafe ist, soll er das glauben dürfen in diesem Land. Die Frage ist, welche Handlungen er daraus ableitet. Wenn er Diskriminierung oder Verfolgung daraus ableitet, dann würde das den Werten des Zusammenlebens widersprechen. Solange er nur eine Glaubensauffassung hat, ist ihm diese ja nicht streitig zu machen.
Schultz: Der Staat soll aber in Zukunft für diesen Unterricht verantwortlich sein. Er steht dann dafür gerade, dass zum Beispiel Homosexualität als Strafe gesehen wird. Das geht doch nicht. Deshalb glaube ich, dass die Trennung von Bekenntnis und Staat so wichtig ist.
Lüpke: Es kann aber nicht Aufgabe des Ethikunterrichts sein, Muslimen eine Haltung, wie Sie sie kritisiert haben, auszureden und ihnen beizubringen, dass diese Positionen mit dem Koran nichts zu tun haben. Diese innere Aufklärung muss vom Islam selbst geleistet werden. Wenn die Integration gelingen soll, müssen die islamischen Religionsgemeinschaften gefordert werden, sich der Diskussion zu stellen.
Derzeit bietet die Islamische Föderation Islamunterricht an Berliner Schulen an. Wir hatten einen Vertreter der Föderation zu diesem Gespräch eingeladen. Er sagte, die Föderation könne sich zu "Pro Reli" nicht äußern, weil sie nicht wisse, was der Volksentscheid für sie letztlich bedeutet.
Schultz: Dass wir hier nicht einen falschen Zungenschlag reinbekommen: Nicht der Islam ist unser Problem. Es gibt ja ganz verschiedene muslimische Positionen, demokratische und problematische, wie Religionen oft ein großes Spektrum abbilden. Der Unterricht der Islamischen Föderation erscheint mir besser als sein Ruf. Wir haben im Übrigen auch manchmal Probleme mit dem, was die katholische Kirche sagt. Wenn etwa der Papst seine Kondompolitik in Afrika präsentiert.
Lüpke: Glauben Sie ja nicht, dass die Kondompolitik des Papstes katholische Schüler in Berlin sonderlich beeindruckt …
Schultz: Das freut mich sehr.
Lüpke: … oder dass es das Bemühen eines Religionslehrers sein muss, den Schülern solche Positionen als unumstößliche Wahrheiten zu vermitteln. Die würden doch reihenweise aus dem Unterricht weglaufen.
Schultz: Ich finde sehr interessant, dass Sie sagen, die Demokratisierung muss aus den Religionen selbst kommen. Das wäre natürlich der Glücksfall, auf den wir hoffen. Ich glaube aber, dass vor allem der Ethikunterricht sehr viel dafür tun kann, dass demokratische Gesinnung auch in den verschiedenen Bekenntnissen reflektiert wird. Diese Gesellschaft, die so viele Fliehkräfte hat, die braucht ein solches Fach. Wir wissen ja beide, wann es eingeführt worden ist: nach dem sogenannten Ehrenmord an Hatun Sürücü und der begeisterten Zustimmung von einigen Jugendlichen auf den Schulhöfen dazu. Das war der Moment, in dem wir gesagt haben: Wir müssen da etwas tun.
Lüpke: Würden Sie nicht zugestehen, dass dem nicht mit der Kenntnis von Menschenrechten, dem Wissen über andere Religionen beizukommen ist? Es gibt offenbar eine darunterliegende Schicht von grundlegenderen Überzeugungen, die zu bearbeiten eigentlich nur aus und mit Religion geschieht. Der Ethikunterricht hat nicht die Autorität, diesen Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, dass weder der Koran noch ein islamischer Glaube, sondern allenfalls eine kulturelle Tradition diese Ehrvorstellung und dieses Verhältnis von Mann und Frau tragen. Es muss doch von innen her aufgebrochen werden.
Zwei Schlussfragen. Herr Lüpke: Wenn "Pro Reli" verliert, fallen Sie dann vom Glauben ab?
Lüpke: Das ist ja keine Glaubensfrage. Wenn der Volksentscheid nicht die nötige Mehrheit bringt, zeigt das, dass wir weiter für eine bessere Stellung des Religionsunterrichts in der Schule kämpfen müssen.
Herr Schultz, wenn "Pro Reli" verliert, senden Sie dann ein Stoßgebet gen Himmel?
Schultz: Das fällt mir schwer, weil ich nicht genau den Ort weiß, an den ich mein Gebet richten müsste. Aber im Ernst: Die Auseinandersetzung um "Pro Reli" ist von beiden Seiten nicht immer fair geführt worden. Nach dem Volksentscheid gilt es zunächst, das zerrüttete Verhältnis zwischen religiösen Menschen, den Humanisten und jenen, die Ethik unterrichten, zu kitten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht