Streitgespräch Ziviler Ungehorsam: "Trittbrettfahrer!" – "Formfetischisten!"
Ziviler Ungehorsam ist schwer in Mode. Doch wo liegen die Grenzen des Ungehorsams? Ein Streitgespräch über den Widerstand von heute und die Pflicht zum Regelbruch.
taz: Felix Kolb, Sie waren nicht ganz unbeteiligt daran, zivilen Ungehorsam in Deutschland familientauglich zu machen. Was ist ziviler Ungehorsam?
Felix Kolb: Ich definiere das eng: Unsere Gesellschaft ist zunächst grundsätzlich gerecht und demokratisch strukturiert. Wenn trotzdem staatliche Verfahren zu illegitimen Entscheidungen führen, dann kann es moralisch richtig sein, Gesetze bewusst und öffentlich zu brechen. Ein Kernprinzip ist, dass ich mich dabei gewaltfrei verhalte und zu meinem Ungehorsam stehe.
Tadzio Müller, Sie sagen, dass "Castor Schottern" – das Unterhöhlen von Gleisen – ziviler Ungehorsam sei. Auch in Dresden geht es nicht nur darum, sich nett wegtragen zu lassen und seinen Ausweis bei der Polizei abzugeben.
Tadzio Müller: Nein. Und ich halte das Verständnis von Felix, mit Verlaub, für eines aus den 80er Jahren. Er redet von einer im Prinzip gerechten Gesellschaft. Aber wie kann unsere Gesellschaft gerecht sein, wenn unser Lebensstil die Lebensgrundlagen anderer zerstört? Ich nutze den Begriff strategisch: Ziviler Ungehorsam ist schlicht ein Regelbruch, der von vielen Menschen als legitim angesehen wird.
Das heißt?
Müller: In Dresden sehen wir, dass Tausende Menschen es für legitim halten, gegen Naziaufmärsche nicht nur Kerzen anzuzünden. Wir, linksradikale Gruppen aus dem postautonomen Milieu, haben gesagt: Wir überwinden das alte Gehabe von Militanz und klassischen Straßenkämpfen, aber wir brauchen auch keine starren Bestimmungen. Wir sagen: "Wir schottern die Gleise, wir stoppen die Nazis. Findet ihr das legitim oder nicht? Wenn ja, dann lasst es uns machen."
Kolb: Ich glaube nicht, dass radikale Aktionen per se legitim sind oder gar Veränderung erzeugen können – es kommt auf ihre Inszenierung an. Neue Aktionsformen, die Tadzio als zivilen Ungehorsam bewirbt – wie etwa das Schottern von Gleisen im Wendland –, sind nicht in der Lage, breite gesellschaftliche Mehrheiten zu mobilisieren. Denn sie verschrecken Teile der Öffentlichkeit und wichtige Akteure in sozialen Bewegungen. Obwohl es ein Regelverstoß ist, muss ziviler Ungehorsam an das Gerechtigkeitsempfinden der Öffentlichkeit appellieren.
Dr. Tadzio Müller (35, Foto) ist Referent für Klima- und Energiepolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er war Sprecher der Kampagne "Castor Schottern" und ist organisiert in der Interventionistischen Linken (IL), einem Zusammenschluss linksradikaler Gruppen, die für Februar zu Antinaziprotesten nach Dresden rufen.
Dr. Felix Kolb (38) ist Mitgründer und Stiftungsratsmitglied der Bewegungsstiftung. Er war Attac-Mitbegründer und 1997 einer von sieben Initiatoren des Aufrufs zu den ersten Sitzblockaden der Initiative X-tausendmal quer, einer massenhaften und familientauglichen Sitzblockade gegen den Castortransport nach Gorleben.
Tadzio Müller, Sie nutzen den Begriff "ziviler Ungehorsam" sehr flexibel. Am Ende fliegen aber oft doch wieder Steine.
Müller: Uns wird vorgeworfen, dass wir einen Begriff dehnen. Dieser Vorwurf geht davon aus, dass die Vorstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen und auch von Widerstandsformen grundsätzlich stabil ist. Wenn ich heute zu einem griechischen Demokraten von vor 2.500 Jahren ginge, würde er mir sagen, dass unsere Demokratie keine ist, weil wir Frauen abstimmen lassen. Ähnlich ist es hier. Alles um uns herum verändert sich, aber die Formen, in denen wir etwas verändern, die sollen gleich bleiben? Das verstehe ich nicht.
Felix Kolb, heißt das, dass Sie ein Konservativer sind?
Kolb: Quatsch. Ich habe 1997 zu den sieben Personen gehört, die den ersten Aufruf zu den gewaltfreien Sitzblockaden von X-tausendmal quer im Wendland namentlich unterschrieben haben. Wir hatten damals auch Angst, dass es Verfahren wegen Aufrufs zu Straftaten gegen uns geben würde. Für uns war aber nicht die Angst vor Repression handlungsleitend, sondern die Überzeugung, dass es richtig ist, mit Name und Gesicht Regeln zu brechen und dazu zu stehen.
Was läuft denn bei Tadzio Müllers Leuten anders?
Kolb: X-tausendmal quer hat massiv dazu beigetragen, Sitzblockaden zu normalisieren. Ich habe bei anderer Gelegenheit auch schon für Gleisdemontagen geworben. Die waren aber kompatibel mit einem Gottesdienst für diejenigen, die ihn wollten. Wir wollten den Regelbruch so sympathisch wie möglich machen. Jetzt gibt es eine Gegenbewegung: Das linksradikale Spektrum ruft zum zivilen Ungehorsam – läuft aber de facto fast uniformiert zum Schottern. Wenn die Polizei kommt, schlagen sich viele in die Büsche.
Der Erfolg gibt den Postautonomen aber recht. An den Blockaden in Dresden beteiligten sich Tausende Menschen, auch am Schottern im Wendland.
Müller: Das ist es ja: Wir sprechen damit die Menschen an. Doch im klassischen gewaltfreien Spektrum gibt es viele Abwehrreflexe. Ich sage: Wenn es neue Bestrebungen gibt, sich die Gesellschaft wieder anzueignen, müssen wir das ernst nehmen.
Kolb: Moment: Es gibt natürlich ein Recht auf Protest. Aber es gibt – zum Glück – kein Recht auf zivilen Ungehorsam. Denn es ist keine böse Repression, sondern schlicht logisch, für einen Regelbruch ein Bußgeld verhängt zu bekommen. Die Frage ist, ob wir es richtig finden, dass es kollektiv gültige Regeln gibt, die in halbwegs demokratischen Entscheidungen zustande kommen.
Definition: Bei zivilem Ungehorsam handelt es sich um eine Protestform, bei der Menschen bewusst gewaltfrei Gesetze brechen und sich dazu bekennen, weil sie sich auf ihr moralisches Recht berufen.
Gechichte: Zu Aktionen zivilen Ungehorsams kommt es seit den 90er Jahren etwa regelmäßig bei familienfreundlichen Sitzblockaden der Initiative "X-tausendmal quer" im Wendland. In den letzten Jahren mobilisieren auch linksradikale Gruppen aus dem sogenannten postautonomen Spektrum verstärkt unter diesem Stichwort. Ihr Protest geht jedoch über die symbolische Sitzblockade hinaus: In Dresden etwa soll im Februar wieder ein Neonaziaufmarsch effektiv verhindert werden. Für Aufsehen sorgte auch der Versuch, bei Castortransporten massenhaft die Schienen vom Schotter zu befreien (schottern).
Konferenz: Am Wochenende findet in Dresden die Konferenz Ungehorsam! Disobedience! zum Thema Ziviler Ungehorsam statt. Dort sollen die Grenzen und Möglichkeiten dieser Widerstandsform diskutiert werden. Die taz ist Medienpartner dieser Konferenz. (mk)
Finden Sie es richtig?
Kolb: Ich finde es richtig, dass in den USA die Polizei Abtreibungsgegner nicht vor Kliniken sitzen lässt, wo sie Frauen den Zugang versperren. Ich maße mir auch nicht an, für andere zu definieren, was richtige moralische Gründe für zivilen Ungehorsam sind. Und als Demokrat nehme ich mir kein Recht heraus, das ich nicht auch anderen zugestehe. Deshalb ist es wichtig, eine Strafe für einen Regelübertritt zu akzeptieren.
Müller: Natürlich urteilen wir, dass es moralisch legitim ist, Neonazis zu blockieren, aber nicht Frauen in Abtreibungskliniken zu belästigen. Diese moralischen Maßstäbe den Staat definieren zu lassen, halte ich für makaber.
Tadzio Müller, Sie sagen, Sie benutzen den Begriff "ziviler Ungehorsam" rein strategisch. Was ist an dem Begriff so relevant?
Müller: Mit dem Begriff kann berechtigter Regelbruch politisch legitimiert werden.
Kolb: Ich finde es ja schön, dass im linksradikalen Spektrum heute die Einsicht vorherrscht, dass es Kinderkram und politisch destruktiv ist, Steine zu schmeißen und sich Rangeleien mit der Polizei zu liefern. Wenn sich aber postautonome Gruppen offensiv auf die Idee des zivilen Ungehorsams berufen, um sich damit falsch zu etikettieren, dann delegitimiert das mittelfristig das ganze Konzept. Zugespitzt könnte ich sagen, dass ihr Trittbrettfahrer seid.
Müller: Das nenne ich Beharrungspolitik. In Heiligendamm gab es ein Zusammenkommen von Gruppen, die in den 80er Jahren noch in tiefsten Gräben saßen: Müslis gegen Militante, Pazifisten gegen Steineschmeißer. Aber dort ist es gelungen, diese Gruppen zusammenzubringen. Seitdem ist es gerade das postautonome Spektrum, das die Gräben zuschüttet. Jetzt sagt ihr: "Eure Politik war Kinderkacke. Wir Gewaltfreien müssen nichts lernen." Um es auch mal überspitzt zu sagen: Wenn wir Trittbrettfahrer sind, dann seid ihr Formfetischisten.
Kolb: Ich gebe ja zu, dass die klassische gewaltfreie Bewegung derzeit etwas schwach auf der Brust ist. Aber aus meiner Sicht wäre sie gut beraten, weniger mit dem linksradikalen Milieu und mehr in der Mitte der Gesellschaft anknüpfungsfähig zu sein. Der BUND, der Nabu, die Gewerkschaften sind auch wichtige Partner, wenn es um ökologische und soziale Kämpfe geht.
Müller: Da halte ich gegen. Wenn ein Handball-Bundesliga-Trainer nach einem Spiel sagt "Die Gegner spielen Handball wie auf Schienen, und wir haben es verpasst, zu schottern", dann zeigt das, wie solche Aktionen am gesellschaftlichen Alltagsverstand ansetzen. Aber vielleicht sollten wir aufhören, nur unsere Differenzen zu betonen, und auch die Gemeinsamkeiten herausstellen.
Welche sind das denn?
Kolb: Das Verbindende ist sicher die Analyse, dass wir in gravierenden gesellschaftlichen Umbruchszeiten leben, in denen es falsch wäre, Protest prinzipiell nur auf legale Protestformen zu beschränken. Es ist richtig und notwendig, die Aktionsformen, die wir haben, auch der dramatischen Lage anzupassen – aber eben mit Umsicht.
Müller: Das linksradikale Spektrum hat viel von X-tausendmal quer gelernt. Aber jetzt muss es auch mal okay sein, wenn jemand sagt, dass er bei einer Protestaktion nicht erkannt werden will. Ich habe das Gefühl, dass die Gemeinsamkeiten der letzten Jahre wieder etwas auseinanderfallen. Deshalb sage ich: Lasst uns nicht in die Grabenkämpfe von vorgestern zurückfallen. Wir sollten unsere Legitimitätsreserve nutzen, um wieder mehr gemeinsam zu verändern.
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