Streit über mögliche Koalitionen: Grüne offen für alles
Die Grünen laufen vor ihren eigenen Koalitionsspekulationen davon. Plötzlich wollen sie mit einem Anbandeln an Union oder Linke nichts mehr zu tun haben.
Nach den enttäuschenden Wahlergebnissen in Hessen und Niedersachsen ist es mit der Geschlossenheit bei den Grünen wieder einmal ganz vorbei. Die Grünen sehen rot.
Der Fraktionsvize im Bundestag Jürgen Trittin erklärte zwar am Dienstag der taz, es sei alles ein "Missverständnis" gewesen: Er habe nie behauptet, dass die Grünen im Saarland im Herbst 2009 eine rot-rot-grüne Koalition eingehen sollten - dabei hatte er genau dies in einem Zeitungsinterview gesagt. "Ein Regierungswechsel könnte dort [im Saarland, Red.] nur in einer Dreierkonstellation herbeigeführt werden", sagte Trittin. Und: "Es ist in unserem strategischen Interesse, sie [die Linke] dieser Konfrontation mit der Realität auszusetzen" - nämlich im Saarland mit SPD und Grünen zu regieren.
Der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Fritz Kuhn, reagierte darauf geradezu erbost. "Wenn Jürgen Trittin am Spekulieren Freude hat, sollte er es doch mal an der Börse probieren", teilte Kuhn seinem Vize mit. Die sächsische Grünen-Fraktionsvorsitzende Antje Hermenau kommentierte: "Verdiente Leute erwecken öffentlich den Eindruck, dass sie als alte Grabenkämpfer im Jahre 2009 noch einmal ihren Ministergräbern entsteigen wollen".
Schon am Wochenende musste die Hamburger Grünenchefin Anja Hajduk eine Aussage der ehemaligen Hamburger Senatorin und Vizefraktionschefin im Bundestag Krista Sager zu einem schwarzgrünen Bündnis ganz fix als "Missverständnis" bezeichnen. Sager hatte erklärt, die Grünen sollte in Hamburg notfalls auch mit dem Bürgermeister von der CDU, Ole von Beust, sprechen: "Es liegt in unserer Verantwortung, zukünftig auch auf komplizierte Wahlergebnisse eine Antwort zu finden." Gleichzeitig mochte Sager eine Zusammenarbeit mit der Linken nicht verteufeln - die Umfragen für Hamburg legen es nahe, sehr offen zu sein. Der Grund für die beklagenswerten "Missverständnisse" liegt auf der Hand. Es gelingt der Grünenspitze nicht, die dank der Linkspartei komplizierten Wahlergebnisse so zu beantworten, dass die Grünen gleichzeitig nach links wie nach rechts anschlussfähig werden.
Linke wie Trittin reklamieren die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen als Punktsieg für sich: Die Wählerwanderungen bewiesen erneut, dass die Grünenwähler im rotgrünen Lager blieben. Umfragen an der Basis ergeben außerdem regelmäßig, dass die überwältigende Mehrheit der Grünen sich als links definiert und schwarzgrüne Bündnisse nicht goutiert. In diese Richtung hat etwa die NRW-Landeschefin Daniela Schneckenburger bereits in der taz argumentiert und damit für rot-rot-grüne Bündnisse geworben.
Doch vermuten die meisten Führungsgrünen, dass die Wähler am ehesten zu halten sind, wenn sie mit Rotgrün pur umworben werden. Hamburgs Hajduk versandte gestern zur Sicherheit eine Rundmail, um schwarzgrünen Spekulationen vorzubeugen. Der Landesvorstand der Hamburger Grünen "ist der Auffassung, dass die inhaltliche Basis für Koalitionsverhandlungen mit der CDU nicht ausreicht", heißt es darin.
Parteichefin Claudia Roth vesuchte es gestern mit einer Art Machtwort. Roth erklärte, die "bunten Faschingstage" seien nun vorbei: "Wir kämpfen ganz klar für Rot-Grün in Hamburg und dafür, bei den anstehenden bayerischen Kommunalwahlen die großen Städte rot-grün zu regieren. Wilde Farbdebatten, egal ob Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün, bringen uns dabei nicht weiter, das sollten alle Parteifreunde bedenken, die sich jetzt in Farbspielchen ergehen."
Weil Roth aber trotzdem eine Linke und damit näher bei Trittin als bei Kuhn oder Sager ist, ergänzte sie: "Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Natürlich können sich Parteien verändern und neue Bündnismöglichkeiten entstehen, auch mit der Linkspartei, das aber ist Zukunftsmusik."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“