: Streiks ebben ab: Chance für Gorbatschow
■ Arbeiter im Donez-Becken fahren wieder ein / Ryschkow und Streikkomitees handeln „konkretes Aktionsprogramm“ aus /'Prawda‘ fragt nach Rolle der Partei
Berlin (dpa/afp/ap/taz) - Nach zweiwöchigem Ausstand der Grubenarbeiter in allen wichtigen Kohlerevieren scheint die Streikwelle in der Sowjetunion endgültig abzuebben. Michail Gorbatschow ist damit eine Atempause eingeräumt worden, die er dazu nützen könnte, die von ihm geforderten personellen Veränderungen in Staat und Partei vorzunehmen. Den Konservativen wurde die Möglichkeit genommen, den Streik für ihre Interessen zu instrumentalisieren.
Der Teilerfolg, den der Parteichef verbuchen kann, steht auf schwankendem Boden. Ob er ausgebaut werden kann, hängt davon ab, wie und in welchem Umfang Gorbatschow die den Streikenden gemachten Zugeständnisse wirklich einlösen kann.
Als erste kehrten am Dienstag die Kumpels im ukrainischen Donez-Becken an ihre Arbeit zurück, nachdem eine Delegation der Streikkomitees in Moskau mit Ministerpräsident Ryschkow ein „konkretes Aktionsprogramm“ vereinbart hatte. Darin vorgesehen sind verbesserte Sozialleistungen, Lohnerhöhungen und mehr Autonomie für die Betriebe. Der Oberste Sowjet bezifferte die Summe des Hilfspakets mit drei bis 5,5 Milliarden. Erst nachdem die Abendnachrichten im sowjetischen Fernsehen Bilder der Unterzeichnung des Aktionsprogramms gesendet hatte, verließen die Streikenden um zwei Uhr nachts den Platz vor dem Parteigebäude, das sie seit dem 17.Juli Tag und Nacht belagert hatten. In einer Dringlichkeitssitzung des Obersten Sowjet, die sich mit dem Streik befaßt hat, hatte Gorbatschow die Komissionen des Parlaments und die Regierung aufgefordert, die mit den Streikvertretern vereinbarten Protokolle zu prüfen. Die Hauptanliegen der Bergarbeiter bestand in Garantien für die Erfüllung ihrer Forderungen. Für die Sitzung des Parlaments am Dienstag hatte der Kremlchef angekündigt, Lehren aus dem Streik sollten in schriftlicher Form gezogen und vom Parlament verabschiedet werden. Das „konkrete Aktionsprogramm“ soll nach Angaben der 'Prawda‘ Gültigkeit für die gesamte Kohleindustrie besitzen.
Die Lage im nordsibirischen Workuta ist demgegenüber noch nicht ganz geklärt. Zunächst hieß es, die Kumpel hätten nach Aufforderung durch das Streikkomitee ihren Arbeitskampf für zehn Tage ausgesetzt. Radio Moskau meldete allerdings, die Basis hätte diese Entscheidung abgelehnt und bestehe darauf, selbst eine Delegation nach Moskau zu schicken, um mit dem Ministerpräsidenten zu verhandeln. In nur drei der 13 Zechen sei dort wieder gearbeitet worden.
In ihrer Dienstagsausgabe fragte die 'Prawda‘, welche Rolle eigentlich die Kommunistische Partei in der momentanen Konfliktregelung innehabe. Bisher seien nur Parlament und Regierung in Erscheinung getreten. Weiterhin warf sie den Funktionären vor, sich zurückgezogen zu haben, als die Arbeiter ihre berechtigten Forderungen vorgebracht haben. Anscheinend, so die Zeitung, „sehnen sich gewisse Parteikomitees nach den guten alten Zeiten und nach dem Rückgriff auf Gewalt bei der Regelung von Problemen zurück“.
In dem von Nationalitätskonflikten geschüttelten Georgien blieb es weiter unruhig. Die abchasische Hauptstadt Suchumi war durch einen Generalstreik nahezu gelähmt. In der georgischen Hauptstadt Tiflis hatten am Montagabend 18.000 Menschen für den Austritt Georgiens aus der UdSSR demonstriert.
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