Streikparole: Erst das Essen, dann die Miete

■ Vor sechzig Jahren begann der größte Berliner Mietstreik/ Bestreikt wurden private wie städtische Vermieter/ Beteiligt waren über 3.000 Häuser/ SA-Anhänger unter den Mietern schlossen sich der Aktion an, die mit der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 ihr Ende fand

Jeden Tag schließen sich neue Häuser dem Kampf gegen die hohen Mieten an. In den Amtsgerichten herrscht Hochbetrieb. Eine Räumungsklage jagt die andere. Aber dieser Hochbetrieb wird bei weitem von dem übertroffen, der auf der Straße herrscht, wenn ein erwerbsloser Prolet exmittiert werden soll. In der zweiten Septemberhälfte wurden in Berlin nicht weniger als 300 Exmittierungen infolge des Protests der werktätigen Bewohner zurückgenommen. Allein im Südosten (dem heutigen Kreuzberg, d.V.) konnten aus diesem Grunde 180 Exmittierungen nicht durchgeführt werden.«

Dieser Artikel aus der KPD-Zeitung Rote Fahne erschien am 16.Oktober 1932. Damals war der Streik der Berliner MieterInnen bereits zwei Monate alt und trotzdem oder gerade deshalb schlossen sich ihm immer mehr Menschen an. Auf dem Höhepunkt des Streiks Anfang 1933 waren es nach Schätzungen des Mieterausschusses und der Welt am Abend über 3.000 Häuser, die sich auf diese Weise gegen die Profiteure der Wohnungsnot, gegen Hausbesitzer und Spekulanten, wehrten.

Hausbesetzung in der Swinemünder Straße

Angefangen hatte der Mietstreik dort, wo 1872 bereits eine der ersten Hausbesetzungen stattgefunden hatte, in der Swinemünder Straße in Berlin-Mitte, genauer gesagt auf dem kurzen Stück zwischen Zionskirch- und Arkonaplatz. Am 27.Juli 1932 beschloß eine Versammlung von 180 Mietparteien der insgesamt 14 Mietshäuser, vom 1.August an in den Mietstreik zu treten. Die von den MieterInnen immer wieder vorgebrachten Forderungen nach Senkung der Miete um 30 Prozent sowie dem Erlaß der bestehenden Mietschulden wurden vom gemeinsamen Vermieter, der »Mädlerschen Grundstückverwertungs AG«, ignoriert. Während einer Verhandlung mit den Streikenden, knapp zwei Wochen nach Streikbeginn, hatte der Verwalter den Hinweis der Streikleitung, daß 68 Prozent der Mieter erwerbslos seien, mit der lakonischen Bermerkung quittiert, daß dann wohl 30 Prozent Kürzung völlig überzogen seien. Die Antwort der Streikleitung: »Wir können Ihnen noch nicht mal sagen, ob ooch die restlichen 70 Prozent bezahlt wer'n könn.«

Kurz nach der Swinemünder traten in einer weiteren Straße, diesmal im Bezirk Prenzlauer Berg, die MieterInnen in den Streik. Für die Staatsgewalt Anlaß genug, einzugreifen: Am 18. August wurde in einer regelrechten Kommandoaktion die gesamte Hausversammlung der Lychener Straße 18 verhaftet, am darauffolgenden Tag gar eine Konferenz der Mieterräte in der Liebenwalder Straße 41. Der Schuß ging allerdings nach hinten los. Bereits zwei Tage nach den Polizeiaktionen befand sich ein Gebäude im Mietstreik, das bald zum Symbol für die gesamte Bewegung werden sollte: das ehemalige und nun vermietete Stadtgefängnis am Molkenmarkt, im Volksmund kurz »Wanzenburg« genannt.

In alten Gefängniszellen hausten ganze Familien

»Ein Gang durch die ehemalige Stadtvogtei wirkt gespenstisch. Noch immer reiht sich Zelle an Zelle mit dem Lichtschacht und der Fensterluke. Noch immer sind die eisernen Querbänder vor den Zellentüren, ja nicht einmal die Zellennummern hat man abgemacht, so daß auch fortlaufend zu lesen steht: Zelle 12, soundsoviel Mann. In dieser Zelle hat einst Fritz Reuter gesessen und heute wohnt dort in den allerärmsten Verhältnissen eine junge Familie.« (Vorwärts, 20.8. 1932)

110 Familien der »Wanzenburg« hatten sich im August 1932 zusammengetan und einen Mieterausschuß gewählt, der die Forderungen der streikenden MieterInnen gegenüber dem Pächter vertreten sollte: 50 Prozent Mietsenkung, Übernahme der Gebäude durch das Land Preußen und umfassende Instandsetzungsmaßnahmen. Die Reaktion des Pächters ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem er vor Gericht einige Räumungstitel erwirkt hatte, erschien am Vormittag des 14. September 1932 der Gerichtsvollzieher, um die Exmittierungen, wie die Zwangsräumungen damals genannt wurden, zu vollziehen:

»Es sammelten sich daraufhin auf dem Hofe zahlreiche Personen an, die gegen den Beamten eine drohende Haltung einnahmen. Das Überfallkommando erschien, brauchte aber nicht einzugreifen, da sich die Menge auf die Nachricht von der Nichtvollstreckung der Exmission zertreute.« (Vossische Zeitung, 14.9.1932)

Am 26. September, also nach nur einem Monat Streik, wurde die Miete um 40-42 Prozent herabgesetzt und alte Mietrückstände wurden gestrichen. »Ferner wird der Pächter, um die Gebäude wieder in einen einigermaßen bewohnbaren Zustand zu bringen, eine bestimmte Summe zur Verfügung stellen, mit der der Mieterausschuß die Renovierung der Räume durchführen wird.« (Berliner Morgenpost, 27.9.1932)

Das Zugeständnis des Pächters war sicher nicht ohne den entsprechenden Druck städtischer Stellen erfolgt. Auch die im Berliner Stadtparlament einflußreiche SPD hatte sich im Fall der »Wanzenburg« auf die Seite der MieterInnen gestellt, ohne dabei freilich die Gesamtheit der Bewegung zu unterstützen. Doch das Kalkül, einer größer werdenden Bewegung durch die Konzentration auf offensichtliche Skandale die Spitze zu brechen, war nicht aufgegangen. Ende September, während einer Mieterkonferenz in Kliems Festsälen in der Hasenheide, waren es bereits 1.000 Delegierte, die über den weiteren Streikverlauf berieten. Die Anzahl der Delegierten, die nach eigenen Angaben 35.000 MieterInnen vertraten, läßt auch einen ersten Schluß auf die Streikbeteiligung zu. Im zentralen Mieterausschuß, der Streikleitung, waren zu Beginn des Jahres 1933 etwa 3.300 Mieterräte vertreten, was auf eine ebenso hohe Anzahl der am Streik beteiligten Häuser schließen läßt. Dies würde auch zu einer Meldung passen, die am 30. Oktober 1932 in der Roten Fahne erschien: Dort hieß es hinsichtlich der Streikbeteiligung: »Allein um den Stettiner Bahnhof (dem heutigen Nordbahnhof, d.V.) herum stehen 312 Häuser mit 14.615 Mietern im Streik.«

Auf dem Tisch ein Glas voller Küchenschaben

Der Erfolg, den die BewohnerInnen der »Wanzenburg« mit ihrem Mietstreik erzielt hatten, machte Mut. Das Bild vom übermächtigen Hausbesitzer bröckelte, die Angst, durch Räumungen auf die Straße gesetzt zu werden, war angesichts der Mobilisierung unter der Mieterschaft zu einem kalkulierbaren Risiko geworden. So dauerte es nicht lange, bis die Bewegung ihr zweites Symbol bekam, diesmal im Berliner Südosten, genauer in der Köpenicker Straße 34/35.

»Der Mieterausschuß sitzt von morgens bis abends an einem Tisch mitten im Hof. Ein Glas voller Schwaben (so hießen damals in Berlin nicht die Süddeutschen, sondern die Küchenschaben, d.V.), Käfer, Wanzen, die in den Wohnungen gesammelt wurden und ein großes Buch vor sich. Alle Augenblicke wird eine Führung mit den sich ständig einfindenden Arbeitern veranstaltet, die sich alle zum Protest in das Buch eintragen. Von den 63 Mietparteien, die in diesem 100 Jahre alten, total baufälligen Haus wohnen, stehen 58 im Streik. Sechs Mieter haben noch Arbeit, alle übrigen sind erwerbslos. Die meisten von ihnen sind vier bis fünf Monate mit ihrer Miete rückständig.« (Rote Fahne, 1.10.1932)

Auch hier ähnliche Forderungen wie in der Wanzenburg: »1. Herabsetzung der Mieten um 50 Prozent. 2. Niederschlagung der rückständigen Miete. 3. Renovierung des gesamten Häuserblocks und ausreichende Toiletten.«

Die Köpenicker Straße wurde bald über die Grenzen Kreuzbergs hinaus zum Anlaufpunkt:

»Die gesamten werktätigen Mieter Berlins verfolgen mit größter Aufmerksamkeit den Kampf in der Köpenicker Straße 34/35. Gestern vormittag erschien eine Delegation von etwa 30 proletarischen Mietern, hauptsächlich Frauen, in dem bestreikten Haus, um sich über die Methoden des Mieterkampfes zu informieren. Die Delegierten, die auch in ihren Mietskasernen den Kampf aufnehmen wollen, waren von einer Wohngebietsversammlung der Arndt-, Bergmann-, Belle-Alliance (heute Mehringdamm, d.V.) und Willibald-Alexis-Straße geschickt.« (Rote Fahne, 21.10.1932)

Die Mietstreikbewegung war im übrigen, wie im Artikel der Roten Fahne nur angedeutet, auch laut Zeitzeugen eine an der Basis hauptsächlich von Frauen getragene Bewegung. Wie schon in der »Wanzenburg«, so zeichnete sich auch beim Streik in der Köpenicker Straße ein Erfolg für die kämpfenden MieterInnen ab. Die rückständigen Mieten wurden gestrichen, die Renovierung des Gebäudes in Angriff genommen und die Exmissionsklagen aufgehoben. Allein in der Frage der Mietsenkungen war man sich nicht einig. Die Stadt Berlin, der das Haus gehörte, schlug zehn Prozent vor, die MieterInnen bestanden auf fünfzig Prozent, der Streik ging vorerst weiter.

Seit dem Herbst 1932 hat sich auch ein Großteil der MieterInnen in den Neubaublocks, einem traditionell sozialdemokratisches Wählerklientel, dem Streik angeschlossen. Die meisten von ihnen waren Mitte der zwanziger Jahre in die Neubaugebiete gezogen, in einer Zeit also, in der sich die Weimarer Konjunktur für einige Jahre stabilisiert hatte. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise aber und der damit verbundenen Rationalisierungswelle, der Massenarbeitslosigkeit und dem Abbau der Sozialleistungen wurde auch in Reinickendorf und Pankow die Miete oft unbezahlbar. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß auch in den SPD-Hochburgen der Wille zum Kampf größer war als die Angst, völlig ins soziale Abseits zu geraten. Nach und nach schlossen sich Tausende von MieterInnen der »Weißen Stadt«, der Roland-Siedlung, der Borsig- und der Friedrich- Ebert-Siedlung dem Streik an. Damit wurden nun Hauseigentümer der verschiedensten Couleur bestreikt: der private wie in der »Wanzenburg«, die Stadt wie in der Köpenicker Straße, die Grundstücks AG wie in der Swinemünder Straße und nun auch die städtischen Gesellschaften, Gagfah, DEWAG und wie sie alle hießen. Für die SPD Grund genug, den Streik, der immer weitere Kreise zog, zu unterstützen.

Im Wedding trat bald darauf ein ganzer Straßenzug in den Streik: die Kösliner Straße, berühmt geworden durch die Barrikaden, die dort am Blutmai 1929 gegen die scharf schießende Polizei errichtet wurden. In der Kösliner Straße schwelte der Unmut bereits seit 1927. Reparaturen waren vom Vermieter eingestellt worden, die Häuser dem Verfall preisgegeben. Der Selbsthilfegedanke fand, ähnlich wie zu Beginn der zwanziger Jahre, neuen Zündstoff. Nicht selten wurden die allernötigsten Reparaturen auf eigene Faust durchgeführt und dem Vermieter dann in Rechnung gestellt.

Tägliche Meldung über den Stand des Kampfes

So auch an anderer Stelle im Berliner Norden, in »Meyer's Hof«: Selbiger befand sich im Weddinger Teil der Ackerstraße, Nummer 132/133 und ist in den siebziger Jahren, ähnlich wie die Kösliner Straße dem Abrißbagger der Kahlschlagsanierer zum Opfer gefallen. »Meyer's Hof« war damals neben der »Richardsburg« in Neukölln die größte Berliner Mietskaserne. Über 2.500 Menschen lebten um die sechs Höfe. Im Dezember 1932 traten auch hier die MieterInnen in den Streik, der nunmehr sein drittes Symbol bekommen hatte. Fast täglich gab es Meldungen und Reportagen über den Stand des Kampfes, die bekannteste von ihnen erschien in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) unter dem Motto eines Zille-Zitats: »Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.« Für die Presse schien »Meyer's Hof« geradezu das Sinnbild des Zilleschen »Milljöhs« zu sein.

Anders als die Mietstreiks zu Beginn der zwanziger Jahre, mit denen die MieterInnen die Sozialisierung des Wohnungswesens erkämpfen wollten, war die Berliner Bewegung 1932/33 eine aus der Not geborene und damit weitestgehend entideologisiert. Seit dem Abbau der »Wohnungszwangswirtschaft« (staatliche Wohnraumbewirtschaftung, Mietpreisbindung) zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, herrschten neben Arbeitslosigkeit und sozialer Not in den Mietskasernen katastrophale Zustände. Vor dem Mieterstreik waren die Eigentümer schon lange in einen Reparaturstreik getreten. Entsprechend waren die Forderungen der MieterInnen: Reparatur, Streichung der Mietschulden, Mietsenkung. Obwohl die KPD in der Streikleitung versuchte, die Bewegung parteipolitisch zu vereinnahmen, gelang ihr dies an der Basis nur selten. Gerade in der Berliner Mieterschaft war der Gedanke, bzw. der Zwang der Selbstorganisierung besonders groß. Auch wenn die zahlreichen roten Fahnen das Gegenteil vermuten ließen: beim Mietstreik 1932/33 ging es nicht um die »große Politik«, sondern um den existentiellen Kampf gegen die Hauseigentümer. Vor diesem Hintergrund müßte auch die Tatsache gewertet werden, daß viele NSDAP-Mitglieder sich dem Streik angeschlossen hatten. Was für die SPD den Anlaß gab, aus der Streikleitung auszusteigen, war für die KPD einmal mehr Gelegenheit, ihre Bündnispolitik zu definieren. In einer Meldung der Roten Fahne über den für Anfang Februar geplanten Mieter-Delegiertenkongreß hieß es am 22. Januar 1933:

»Dieser Kongreß hat Aufgaben zu lösen, die von entscheidender Bedeutung für die werktätigen Mieter sind. Unter Führung des zentralen Mieterausschusses Groß-Berlin ist eine Mieterausschußbewegung in Berlin entstanden, die heute Tausende gewählter Mietervertreter umfaßt. In unzähligen Mieterkämpfen haben die Mieter gemeinsam, der KPD-Arbeiter neben dem Arbeiter der SPD und der NSDAP, und diese alle gemeinsam mit parteilosen Arbeitern, Angestellten, Beamten und Kleingewerbetreibenden, den Kampf um die Wohnung in der Einheitsfront behauptet.«

Mieterschutz galt bald nur noch für Arier

Ob der Kongreß tatsächlich stattgefunden hat, geht aus der Presse nicht hervor. Nach der Machtübergabe an Hitler reißt auch in der Roten Fahne die Berichterstattung über den Streik ab. Die Ereignisse des 30. Januar 1933 haben die Situation grundlegend verändert. Viele AktivistInnen gingen in die Illegalität oder wurden verhaftet. Für manch einen Mieterfunktionär allerdings war die NSDAP nicht das größte Übel. So schloß sich der SPD-nahe Dachverband »Bund deutscher Mietervereine«, der seinen Sitz in Dresden hatte, den Nazis an. Der Grund: die von den Nazis wiedereingeführte staatliche Wohnraumbewirtschaftung. Daß der Mieterschutz bald auf den »arischen« Teil der Bevölkerung beschränkt sein würde, scherte solche Funktionäre offenbar weniger als die Interessen der eigenen Klientel. Den Nazis gelang es schließlich, die »rote Gefahr in den Mietskasernen« zu bannen. An Stelle von Mieterräten, und Mieterausschüssen trat die sogenannte Hausgemeinschaft »als Teil der von oben nach unten organisierten Volksgemeinschaft« oder der Blockwart (so die Historiker Geist/Kürvers in ihrem Studie »Das Berliner Mietshaus«, aus dem auch die meisten hier zitierten Quellen stammen). Der Aufenthalt auf den Höfen, seit jeher die Grundlage sozialer Kommunikation wurde bereits 1933 verboten. Uwe Rada