piwik no script img

Streiklicht„Keine Zeit“

■ Vor einem Pariser Schulzentrum

„Keine Zeit, keine Zeit“, ruft der blonde Mann gehetzt, „ich bin schon viel zu spät.“ Im Laufschritt durchquert er das Gittertor, reißt seine Aktentasche für einen kurzen Einblick des Sicherheitspersonals auf und strebt dem Klassenzimmer zu, wo die Schüler auf ihn warten. Die weißen Turnschuhe unter dem dunklen Anzug behält der Lehrer an.

Eineinhalb Stunden Fußweg hat er gestern morgen absolviert, um zum Unterricht in dem Schulzentrum „Paul Valéry“ an der Porte Dorée im Pariser Osten zu kommen. Das ist seine beste Zeit seit dem Streikbeginn — doch immer noch dreimal so lang wie mit der Metro, mit der er in normalen Zeiten zur Arbeit fährt. „Ich bin total müde“, stöhnt Marcel, der kurz nach dem Lehrer vor dem Schultor ankommt. Mit seiner schweren Tasche war er eine Stunde unterwegs.

Über 1.500 Schüler zwischen elf und 20 Jahren büffeln an dem Zentrum mit Mittelschule, Gymnasium und Vorbereitungsklasse für die Eliteuniversitäten. Normalerweise kommen sie um 8 Uhr 10. Seit dem Streikbeginn hat sich eine Gleitzeit eingespielt.

„Am ersten Tag kamen viele Schüler erst Stunden nach Unterrichtsbeginn“, erinnert sich der Vater von Thomas, der seinen elfjährigen Sprößling begleitet hat.

„Inzwischen haben sich die Leute organisiert — sie stehen um 6 oder um 5 Uhr auf, um pünktlich zu kommen.“ Mathieu ist die fünf Kilometer zur Schule auf seinem kleinen roten Rad gefahren.

Sein Vater ist daneben hergelaufen. Nach dem Abschiedskuß vor dem Schultor trägt der Senior das Kinderrad eine halbe Stunde bis in sein Büro und abends nach Hause. Alles zu Fuß — das Auto der Familie benutzt die Gattin, die den elfjährigen Sohn nachmittags von der Schule abholt.

Der 16jährige Patrick, der 35 Kilometer entfernt wohnt, ist vorübergehend zu einem Kumpel in die Stadt gezogen. Die 18jährige Aisha läßt sich vom Vater durch den Stau kutschieren. Und die 16jährige Maite ist per Anhalter gekommen.

An Schwänzen denkt kaum jemand. „Zu Hause würde ich rumsumpfen“, erklärt einer. „Ich hatte im letzten Schuljahr Probleme“, eine andere. „Die Aufnahmeprüfung für die Eliteschule ist schwer. Da zählt jeder Unterrichtstag“, so ein dritter. Um halb neun drängt immer noch eine dichte Menschentraube zu der Sicherheitskontrolle am Eingangstor. Der Rektor mahnt zur Eile.

Noch in dieser Woche wird das hektische Treiben am „Paul Valéry“ vermutlich zum Erliegen kommen. Die Lehrergewerkschaften wollen alle 60.000 Schulen und die über 1.000 Gymnasien Frankreichs bestreiken. Ein paar Zentren machten bereits gestern dicht. Ab Donnerstag soll der Streik total sein. Dorothea Hahn, Paris

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen