piwik no script img

StreiklichtJetzt auf nach Paris

■ Genießen Sie die Streikkultur

Rechts die graue Mauer vom Laribioisière-Krankenhaus. Vorn eine Stoßstange. Links Blech. Hinten Blech. Rundum Hupen. Und die nächste Ampel rückt einfach nicht näher. Plötzlich geht die beschlagene Fensterscheibe vom Nachbarn links herunter. Ein breites, lächelndes Gesicht wird sichtbar, und jemand reicht eine Pralinenschachtel durch die fünf Zentimeter stinkenden Luftraum in das fremde Auto: „Wollt ihr auch welche?“ Die Nougatstückchen schmecken köstlich.

Paris am dritten Wochenende im Streik. Die Pariser haben sich arrangiert: Statt um 6 Uhr morgens stehen viele jetzt um 4 Uhr auf. Die morgendlichen Staus rund um die Hauptstadt sind von knapp 600 Kilometer in der zweiten Streikwoche auf unter 200 in der dritten geschrumpft. Abends kommen sie ein paar Stunden später als üblich nach Hause und gehen dann gleich ins Bett. Besuche bei Freunden fallen aus.

Das Nachtleben in der französischen Hauptstadt leidet. Die Diskos sind leerer als sonst. Und die Barbetreiber klagen. Vor den Erstaufführungskinos gibt es keine Schlangen. Und manche Theater haben günstige Einheitstarife eingeführt.

Ideale Voraussetzungen für Touristen: Wer die Anreise bewältigt und bequemes Schuhwerk besitzt, dem liegt Paris in diesen Tagen zu Füßen wie selten. Leerstehende Hotelzimmer gibt es massenweise – gelegentlich läßt sich sogar ein günstigerer Streiktarif aushandeln. In den Restaurants freuen sich die Kellner über jeden Kunden. In den Museen herrscht angenehme Ruhe vor den Bildern.

Und wenn die offizielle Kunst zwischendurch wegen des Streiks die Tore schließt, bleibt dem interessierten Besucher immer noch die Alltagskultur auf der Straße. An der Demonstrationsroute bieten die Transparente tiefe Einblicke in das Leben. Und wer den persönlichen Kontakt sucht, braucht nicht lange zu warten. In Streikzeiten sind die Franzosen noch gesprächiger.

Einziger Nachteil: der Ausfall der Metro. Aber auch das läßt sich kompensieren – mit dem kostenlosen, regierungsamtlichen Streikbrecherverkehr zu Wasser und zu Lande. In beleuchteten Vitrinen erklärt die Stadt, wo die Haltestellen der Beateau-Bus auf der Seine und den Kanälen sind.

Verschieben Sie also Ihren Boykott wegen der Atomtests auf später. Machen Sie Sich keine Sorgen wegen Bombenattentaten in der Metro. Und genießen Sie die Streikkultur in Paris – bevor es zu spät ist. Dorothea Hahn/Paris

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen