Strawberry Fields Forever: Liverpools Schokoladenseite
Die Europäische Kulturhauptstadt war einst der wichtigste Hafen des Britischen Imperiums. Und schon lange ist Liverpool sehr viel mehr als die Beatles und Fußball. Eine kreative Stadt mit einem kulturellen Mammutprogramm im Jahr 2008
Der so unschuldig träge dahinfließende Mersey hat seine Launen - vor allem wenn draußen auf der Irischen See ein Sturm tobt und die Springflut das Wasser bis zu zehn Meter hoch landeinwärts drückt. Kaum eine halbe Stunde dauert die Überfahrt vom Industrievorort Birkenhead zum Fähranleger in der Liverpooler Innenstadt. An Bord: Anwohner, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, Ausflügler, Touristen. An der Reling lehnt Peter Murray. Auf dem Kopf trägt er die blaue Mütze seines Arbeitgebers. "Letzten Sommer hatten wir sogar Peter Crouch hier", freut sich der Matrose. Schon der Gedanke lässt sein ernstes Gesicht strahlen: Der Starspieler des FC Liverpool posierte zum Fotoshooting auf der Brücke der "Royal Iris of the Mersey" vor Liverpools Schokoladenseite. Aus dem Dunst am Nordufer des Stroms steigen die beiden Türme des Royal Liver Building und der Bau der Hafenverwaltung mit seiner schwarzen Kuppel auf.
Allgemeine Informationen:
Visit Britain, Dorotheenstraße 54, 10117 Berlin, Telefon (0 18 01)46 86 42 (Ortstarif),
Tourist Information Centre, Queen Street, Liverpool L1 1RG, England, +44 15 12 6 52 36 92,
Kulturhauptstadt 2008: Liverpool Culture Company, Municipal Building, Dale Street, Liverpool L2 2DH, www.liverpool08.com
Cavern Club, 10 Mathew Street, Liverpool L2 6RE,
Casbah Coffee Club, 8 Haymans Green, Liverpool Merseyside L12 7JG,
The Beatles Story, Britannia Vaults, Albert Dock, Liverpool L3 4AD, www.beatlesstory.com
Walker Art Gallery, William Brown Street, Liverpool L3 8EL, www.liverpoolmuseums.org.uk/walker
World Museum, William Brown Street, Liverpool L3 8EN, www.liverpoolmuseums.org.uk/wml
Zu Liverpools Glanzzeiten als wichtigstem Hafen des British Empire verewigten sich im späten 19. Jahrhundert die großen Reeder und Versicherungen an der Waterfront mit mächtigen Palästen, reich verzierten Bürohochhäusern im viktorianischen und edwardianischen Stil. Auf den Turmspitzen des Royal Liver Building, das einer Versicherung gehört, sitzen zwei große, schwarze Vögel: die Liver Birds. Die Ratsherren hatten als Ausdruck ihrer Macht und ihres Reichtums bei einem Bildhauer zwei Adler bestellt. Der Mann wusste wohl nicht so genau, wie ein Adler aussieht. So schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel.
Liverpools Waterfront zählt wie die ganze Innenstadt als "Zeugnis des frühen Welthandels im British Empire" seit 2004 zum Weltkulturerbe der Vereinten Nationen. Reich geworden ist die Stadt im 17. und 18. Jahrhundert mit Geschäften, an die sich heute niemand mehr gern erinnert: dem Sklavenhandel. Vom Liverpooler Hafen, damals einem der größten der Welt, fuhren die Schiffe, beladen mit Gewehren, Kanonen, Schnaps, Glasperlen und anderen Waren, nach Westafrika. Dort tauschten die Händler ihre Ladung gegen Sklaven, die sie nach Amerika verfrachteten. "Ein Sklavenschiff hat man aus acht, neun Kilometer Entfernung gerochen", beschreibt Museumssprecher Stephen Guy, ein echter englischer Gentleman, in gesetzten Worten die Zustände: "Sie waren, wie soll man sagen, sehr, sehr unhygienisch. Die Sklaven lagen in ihrem eigenen Schmutz." Kranke und Tote ließen die meisten Kapitäne einfach über Bord werfen. Erst vor 200 Jahren hat Großbritannien den Sklavenhandel verboten. Zum UNO-Gedenktag für die Opfer der Sklaverei eröffnet die Stadt Liverpool am 23. August 2007 ein neues Museum zur Geschichte der Sklaverei.
Viele Liverpooler Museen wie die Kunstgalerie Tate - ein Ableger der berühmten Tate Modern - locken mit freiem Eintritt und einem guten Angebot Besucher an. An den frisch restaurierten Lagerhäusern der Albert Docks mit ihren schicken, kühlen Restaurants, Boutiquen und Souvenirläden wartet ein knallgelbes, busgroßes Ungetüm auf Fahrgäste. Das Landungsboot der britischen Marine brachte im Zweiten Weltkrieg Soldaten auf den Kontinent. Jetzt kutschiert ein findiger Unternehmer Touristen mit der "Yellow Duckmarine" durch die Stadt.
Geschichte, Politik, Stimmungen, Trends, Soziales und Kunst mischen sich in Liverpool immer wieder neu. Keine britische Stadt außerhalb Londons gebiert so viele Ideen und so viele Kreative wie die Stadt des permanenten Aufbruchs und Wandels am Mersey. In den zahllosen Bars und Kneipen spielen laufend heimische und auswärtige Musiker - mal organisiert, mal ganz spontan zu einer Session, die aus einer Stimmung heraus entsteht. Im Hee Bee Jee Bees an der angesagten Slater Street tritt fast jeden Abend eine Band auf. Liverpool: immer im Fluss und jederzeit bereit, neue Impulse aufzugreifen und an einer anderen Stelle neu anzufangen.
Mehr als zwei Jahrhunderte lang war Liverpool der Schmelztiegel Europas. Millionen kamen hier an, um ein Auswandererschiff in die Neue Welt zu besteigen. Viele, die auswandern wollten, blieben in Liverpool hängen. Rund eine Milliarde Pfund geben Touristen jedes Jahr in Liverpool aus. Die meisten Besucher kommen wegen der Beatles. Sie buchen eine "Magic Mistery Tour" - eine Rundfahrt auf den Spuren der Fabulous Four, gehen in den originalgetreu nachgebauten Cavern Club, in dem die noch unbekannten Beatles Ende der Fünfzigerjahre zur Mittagspause für die Geschäftsleute aus den angrenzenden Lagern, Läden und Büros aufspielten, oder in das neue Beatles Museum in den Albert Docks. Originalgetreu sind hier Clubs, Keller, Konzerträume bis auf die Küchenspüle und die Kasse genau nachgebaut. Im schlicht-weißen John-Lennon-Gedenk-Zimmer steht John Lennons Gitarre. Auf dem weißen Flügel liegt seine berühmte runde Brille. Vom Band läuft leise "Imagine". Mehr nicht.
Zu Rory Best im Vorort West Derby verirren sich die wenigsten Touristen. Hier führt Pete Bests jüngerer Bruder in die Tiefen der frühen Beatles-Geschichte. Pete war Ende der Fünfzigerjahre Schlagzeuger der jungen Beatles. Als kaum jemand mehr einen Penny auf die Combo gewettet hätte, gaben ihr Pete und Rorys Mutter Mo in ihrem Casbah Club eine zweite Chance. Wenn die Beatles auftraten, war der Laden rappelvoll. In einem dunklen, winzigen Kellerraum von höchstens dreißig Quadratmetern spielten die Bands. Wer aufs Klo musste, wurde über die Köpfe der anderen Besucher unter der knapp zwei Meter hohen Decke durchgereicht, erzählt Rory.
Rory hat seine Erinnerungen zum Beruf gemacht. Er lebt von seinen ganz persönlichen Führungen durch seine eigene Geschichte und die der Beatles. An der ehemaligen Kaffeetheke verkauft er Besuchern Becher und T-Shirts mit Beatles-Aufdrucken und erzählt Anekdoten.
Phil Hughes mag die Beatles, weil hinter fast jedem Satz in ihren Liedern eine Liverpooler Erinnerung steckt. Mit seinem roten Kleinbus fährt Phil Touristen auf den Spuren der Beatles durch Liverpool. Die "Strawberry Fields" waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz, wo die Beatles als Kinder Cowboy und Indianer spielten. "Strawberry Fields forever. Nothing is real", singen sie, "gar nichts ist wahr", und träumen von der Unbeschwertheit ihrer Kindheitsfantasien, als man "ein Drache, ein Ritter oder ein Flugzeug" sein konnte. Und alles war gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!