Strahlkraft einer mystischen Existenz

Der Populismus verändert gegenwärtig die Politik und die Regierungssysteme nachhaltig. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon legt eine Theorie des Populismus vor und analysiert, warum er für viele attraktiv erscheint

Von Rudolf Walther

„Populismus“ gehört zusammen mit „Terrorismus“, „Dschihadismus“ und „Neoliberalismus“ zu jenen häufig und bis zum Überdruss gebrauchten politischen Begriffen, die ohne einen Hauch dessen auskommen, was der französische Historiker Pierre Rosanvallon anbietet: Geschichte, Theorie und Kritik des Begriffs „Populismus“. Rosanvallon entwirft in seinem Buch „Das Jahrhundert des Populismus“ „eine umfassende Kritik der Demokratietheorie, die der populistischen Ideologie zugrunde liegt“.

Der Begriff „Demokratie“ beruht auf der Fiktion eines homogenen Volkes und zehrt von einem archaischen Volksbegriff. Das wird schon deutlich, wenn die durch Wahlen ermittelte Mehrheit als Stimme des Volkes interpretiert wird. Dabei wird die genuine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt, aus der noch jede Ethnie bestanden hat, vernachlässigt. Genau das macht sich der Populismus zunutze, wenn er das auf Rechtsstaatlichkeit und Individualrechte aufbauende liberale Demokratieverständnis aushebelt, indem er das vermeintlich homogene Wir des Volkes gegen das Ihr der Eliten, der Eingewanderten, Fremden oder Andersgläubigen in Stellung bringt.

Das Problem von Volksentscheiden wiederum besteht darin, dass sich die obsiegende Mehrheit der Selbsttäuschung hingibt, das als homogen unterstellte Volk habe gesprochen. Damit wird die auf Zahlen reduzierte Mehrheit mit Einstimmigkeit, Harmonie und „Ruhe im Karton“ verwechselt, die angeblich nur Abweichler, Fremde oder Feinde gefährden.

Identität und Homogenität

Der Populismus tritt in der Regel nicht als Partei mit bestimmten Interessen auf, sondern als politische Bewegung, die besser in der Lage ist, „affektive Kräfte“ zu mobilisieren und Führungsfiguren zu stärken, die „total in ihrer Funktionalität aufgehen“. Jean-Marie Le Pen, der Vater von Marine, zog 1995 mit dem Slogan „Le Pen, le Peuple“ („Le Pen, das Volk“) in den Wahlkampf und Jorge Eliécer Gaitán (1903–1948), ein von Perón bis Chávez und Subcomandante Marcos bewunderter kolumbianischer Politiker, sagte von sich: „Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk.“ Darin drückt sich eine für populistische Bewegungen charakteristische Präferenz für Kollektivität, Identität und Homogenität aus.

Historisch und geografisch übergreifende und vielen Populismen gemeinsame Momente sind der wirtschaftliche Nationalprotektionismus und der politische Souveränismus. Beide verbinden sich in rechtspopulistischen und in linkspopulistischen Bewegungen und Parteien in Ressentiments gegen die EU und Brüssel, aber auch in Verschwörungstheorien aller Art und gegen Verfassungsgerichte, die an rechtsstaatlich-demokratischen Minimalstandards festhalten.

Dass bei Wahlen ermittelte, numerische Mehrheiten legitim und verfassungskonform sind, bestreitet Rosanvallon natürlich nicht. Aber die die Gegenwart beherrschenden Krisen und Konflikte in Demokratien belegen nur, dass das demokratisch ermittelte Wir zusätzlicher Ausdrucksformen bedarf, um den hohen Anspruch zu erfüllen, eine Herrschaft des Volkes zu sein und nicht der Sieg einer vom Volk abgehobenen Elite oder Wähleraristokratie, wie Populisten von rechts und von links kritisieren.

Rosanvallon skizziert die Umrisse einer verallgemeinerten oder potenzierten Volkssouveränität über die gleiche Anerkennung aller als Rechtssubjekte hinaus. Es stellt sich damit die Frage, wie aus den Subjekten an sich, Subjekte für sich werden können, die nicht nur ihre staatsbürgerliche Verantwortung bei Wahlen wahrnehmen, sondern in die Lage versetzt werden, ihre Geschichte und die Entwicklung ihrer Gesellschaft selbst in die Hand zu nehmen.

Der Autor verabschiedet sich von der Fiktion, dass sich das reale Leben der Individuen mit dem Leben in dem ihnen zugeschriebenen „Zugehörigkeitskollektiv“ decke, denn „das Volk hat eine rein mystische Existenz“ (Proudhon). Rosanvallon betrachtet das Volk bescheidener als „eine veränderliche und problematische Realität“, das ein „Subjekt im Entstehen“ sei wie der „soziale Zusammenhalt“ in der Demokratie. Diese hat einen genuin experimentellen Charakter und lebt von der Stärkung der Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Regierenden und Regierten im Horizont der auf Deliberation und Selbstreflexion angelegten „Betätigungsdemokratie“.

Rosanvallon hat erneut ein ebenso anspruchsvolles wie lesenswertes Buch vorgelegt.

Pierre Rosanvallon: „Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte, Theorie, Politik“. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburger Edition, Hamburg 2020, 266 Seiten, 35 Euro