: Strahlendes Ellweiler
■ Pfälzische Atomanlage mit höchster Umgebungsradioaktivität / Minister Wilhelm rechnet Grenzwerte runter / Öko–Institut: „Grob mißbräuchliche Interpretation“
Von Felix Kurz
Mainz (taz) - Die Urananlage Ellweiler wird seit Jahren illegal betrieben. Zu diesem Ergebnis kommt der Atomexperte Michael Sailer vom Darmstädter Öko–Institut, nachdem der rheinland– pfälzische Umweltminister, Hans–Otto Wilhelm (CDU) gestern den Prüfbericht der Betriebs– und Umgebungsüberwa chung der Urananlage vorgelegt hatte. Der Bericht des Gewerbeaufsichtsamtes legt offen, daß an zahlreichen Stellen in der Umgebung des Betriebes der von der Strahlenschutzverordnung in §44 zugelassene Grenzwert von 150 mrem/Jahr für den „außerbetrieblichen Überwachungsbereich“ erheblich überschritten wurde. Abzüglich der natürlichen Radioaktivität von 110 mrem/ Jahr lag nach Angaben des Ministers der Spitzenwert an einer Stelle bei 648 mrem/Jahr. Eine punktuelle Messung am 29.2.88 habe an einer Stelle rund 350 mrem/Jahr ergeben, sagte Wilhelm. Der Minister meinte zu den außergewöhnlich hohen Dosiswerten, daß zu keiner Zeit „auch nicht annähernd die Grenzwerte erreicht worden“ seien. Fortsetzung auf Seite 2 Wilhelm machte gegenüber Journalisten folgende Interpretation der Strahlenschutzverordnung geltend: Entscheidend für die Beurteilung der Frage, wie sich die Strahlung auf den Menschen auswirke, seien nicht etwa die gemessenen Strahlenwerte, sondern die sogenannte „Ganzkörperdosis“. Damit sei die Strahlung gemeint, die auf den Menschen tatsächlich einwirke. Das ist nach seinen Worten allerdings immer nur ein „Bruchteil der Ortsdosis“, die über das ganze Jahr gemessen werde. Die Ganzkörperdosis, die eine Person pro Stunde erhalte, er rechne sich folglich, „indem man die Ortsdosis durch die Jahresstundenzahl von 8.760 teilt“. Bei dieser Rechenmethode seien bei der Urananlage Ellweiler zu keinem Zeitpunkt gesetzliche Vorschriften verletzt worden. Auch nicht bei der Stelle, an der die Gewerbeaufsicht die Rekordzahl von 648mrem gemessen habe. Denn, so Umweltminister Wilhelm, ein Mensch müßte sich entsprechend 80 Tage und Nächte an genau diesem Ort aufhalten, um wenigstens 150 mrem abzubekommen. Und das tue eben niemand. Für Michael Sailer vom Darmstädter Öko–Institut ist Wilhelms Version eine „grob mißbräuchliche Interpretation der Strahlenschutzverordnung“. Der Minister „redet einer permanenten Verletzung der Strahlenschutzverordnung das Wort“, meinte er. Es wäre staatsanwaltlich zu prüfen, ob Wilhelms Ausführungen nicht „Beihilfe oder Aufforderung zum strafbaren Betrieb einer Atomanlage“ darstellen. Ellweiler sei die Anlage mit der höchsten Umgebungsradioaktivität. Der Rechtsanwalt Hans Neumann: „Wenn man die Strahlenschutzverordnung so auslegt wie Wilhelm, dann kann man diese Vorschrift ersatzlos streichen.“ Der taz liegt allerdings ein Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe (AZ. 8K 165/87) vor, das die Schließung eines Betriebes verfügt hatte, weil an dessen Grundstücksgrenze der Dosisgrenzwert von 150mrem/Jahr gemessen worden war. Die Richter kamen zu dem Ergebnis: Es besteht ein ganz erhebliches Interesse der Allgemeinheit am Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor den Gefahren ionisierender Strahlen. Beim Gewerbeaufsichtamt Karlsuhe, das die Schließung beantragt hatte, kam es dabei nicht darauf an, ob nun ein Mensch auch tatsächlich die gesamte Strahlung aufnehmen muß. Im Nachbarland Hessen stünde eine Schließung ins Haus. Im hessischen Sozialministerium reagiert man bei der Messung von 150mrem/Jahr folgendermaßen: „Die Behörden sichern das Gelände, verbieten den Zugang und suchen die Strahlenquelle“, sagte die Sprecherin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen