Stimmzettelaffäre: Roter Mehltau
"Unanständig, unzulässig, undemokratisch": Interner Prüfbericht lässt kein gutes Haar an der Hamburger SPD. Gestürzter Parteichef Petersen rehabilitiert, der Vorsitzende Scholz erklärt die politische Aufarbeitung für abgeschlossen.
Der Befund ist eindeutig: "Mathias Petersen ist Unrecht geschehen. Seine Kandidatur ist in unzulässiger Weise verhindert worden." Das ist das Fazit des Berichts von Harald Muras. Im Auftrag des vor einem Monat gewählten Parteichefs Olaf Scholz hatte er die Stimmzettelaffäre der Hamburger SPD 2007 und den Sturz des damaligen Landesvorsitzenden Mathias Petersen untersucht.
Damit sei "die politische Aufarbeitung abgeschlossen", sagte Scholz bei der Vorstellung des Berichts am späten Montagabend nach einer Sitzung des Parteivorstandes. Klar sei auch: "So etwas darf sich nicht wiederholen." Petersen sei "übel mitgespielt worden", fügt der frühere Bundesarbeitsminister hinzu, und der neben ihm stehende Petersen kann seine Genugtuung nicht verbergen: "Ich fühle mich bestätigt."
Vor fast drei Jahren war die politische Karriere des 54-jährigen Allgemeinmediziners beendet worden: durch innerparteiliche Gegner und einen bis heute unaufgeklärten Raub von Stimmzetteln bei der Mitgliederbefragung zur Spitzenkandidatur bei der Bürgerschaftswahl 2008. Jetzt steht er erneut, wie bei seinem Rücktritt am 28. Februar 2007, in der Parteizentrale Kurt-Schumacher-Haus am Hamburger Hauptbahnhof vor den Journalisten und antwortet ausweichend auf die Frage, ob er denn bei der nächsten Wahl 2012 Bürgermeisterkandidat der SPD werden wolle: "Das ist zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht wichtig", sagt der Bürgerschaftsabgeordnete und hält sich somit alle Türen offen.
19. 6. 2004: Ein Parteitag der Hamburger SPD wählt Mathias Petersen zum neuen Landeschef.
6. 5. 2006: Ein SPD-Parteitag wählt Mathias Petersen erneut zum Vorsitzenden. Er erhebt - unwidersprochen - den Anspruch auf die Spitzenkandidatur für die Bürgerschaftswahl 2008.
Herbst 2006: Nach einem Konflikt entlässt Petersen Landesgeschäftsführer Ties Rabe, der als Chef des SPD-Kreises Bergedorf zugleich Mitglied des Landesvorstandes ist. Er und vier andere Kreischefs beginnen, Petersens Sturz zu betreiben.
14. 1. 2007: Im Landesvorstand kommt es zum offenen Aufstand gegen Petersen. Der beharrt jedoch auf seiner Kandidatur.
24. 1. 2007: Der Landesvorstand beschließt eine Mitgliederbefragung über die Spitzenkandidatur. Mathias Petersen und seine Stellvertreterin Dorothee Stapelfeldt bewerben sich.
25. 2. 2007: Bei der Auszählung in der Parteizentrale fehlen in der Wahlurne 959 Stimmzettel.
27. 2. 2007: Der Landesparteitag, auf dem der Sieger der Mitgliederbefragung offiziell gekürt werden sollte, findet nicht statt.
28. 2. 2007: Der SPD-Landesvorstand erklärt die Mitgliederbefragung für ungültig und tritt geschlossen zurück.
24. 3. 2007: Ein SPD-Parteitag wählt den ehemaligen Kulturstaatsminister und Zeit-Herausgeber Michael Naumann zum Spitzenkandidaten. Der Bürgerschaftsabgeordnete Ingo Egloff wird Parteivorsitzender.
Zehn Seiten stark ist der Bericht von Muras, ehemaliger Kreisvorsitzender der SPD in Hamburg-Harburg. An Deutlichkeit ist er nicht zu überbieten: Die Katastrophe liege "bis heute wie Mehltau über der SPD".
Die Mitgliederbefragung hätte nicht für ungültig erklärt und der Vorstand nicht zurücktreten dürfen. Die Mehrheit der Petersen-Kritiker im Landesvorstand hätte erkennen müssen, dass sie "mit dem Versuch, Mathias Petersen zu stürzen, gescheitert war": Petersen lag uneinholbar vor seiner Kontrahentin Dorothee Stapelfeldt, selbst sämtliche 959 verschwunden Voten hätten daran nichts geändert. Deshalb hätte Petersen als Spitzenkandidat nominiert werden müssen, befindet Muras; anschließend hätte ein Parteitag "das letzte Wort" haben müssen.
Die langwierigen Konflikte im Landesvorstand hatten ihren ersten Höhepunkt bei einem offenen Putschversuch am 14. Januar 2007 erreicht. Fünf Kreisvorsitzende im Vorstand hätten damals "ganz eindeutig" erreichen wollen, dass der Parteichef "entnervt" zurücktrete. Durch die Art und Weise des Vorgehens seien damals, schreibt Muras, "die Grundsätze von Anständigkeit" verletzt worden.
Bei seiner Recherche, so Muras, habe er jetzt viele der damals Handelnden "als kluge und nachdenkliche Menschen erlebt, die aber dennoch selbst an Ereignissen mitgewirkt haben, die menschlich unanständig, politisch unzulässig und verfahrensmäßig undemokratisch gewesen sind". Bei Einigen habe er durchaus "Einsicht und Selbstkritik angetroffen, die ich bei vielen anderen auch für notwendig halte".
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