Stimmen zum Hartz-IV-Urteil: Berliner Rückendeckung für Karlsruher Urteil
Die Fraktionen legen das Urteil verschieden aus. Grüne und FDP: Mehr Geld für Kinder.
Von der Linkspartei bis zur FDP stößt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Berliner Landespolitik auf einhellige Zustimmung. Höchst unterschiedlich sind aber die Schlussfolgerungen aus der Karlsruher Entscheidung. Für den Landeshaushalt soll sie zumindest für 2010 keine Auswirkungen haben. Auch die laufenden und bereits abgeschlossenen Verfahren am Berliner Sozialgericht zum Komplex Hartz IV sind einem Sprecher zufolge nicht betroffen.
Für SPD-Arbeitsmarktexpertin Burgunde Grosse zeigt das Urteil, "dass wir dringend einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn brauchen". CDU-Fraktionschef Frank Henkel würde das bestreiten, und dennoch ist das Urteil für ihn "richtungsweisend": Es drängt aus seiner Sicht für den rot-roten Senat, "seine völlig unzureichende Familienpolitik" umgehend zu überprüfen.
"Das Beste an Hartz IV ist das Sozialticket. Für 33,50 Euro im Monat bin ich mobil und flexibel. Das muss ich auch sein: Ich fahre in der ganzen Stadt umher, um das Leben meiner Familie zu organisieren. Ich schaue morgens im Internet, wo es preiswerte Lebensmittel gibt und wo jemand Kinderkleidung ausrangiert.
Ich bin seit anderthalb Jahren arbeitslos, mein Mann hat seit zwei Jahren keinen Job. Unsere kläglichen Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Unsere Tochter ist 13 Jahre alt, unser Sohn 5. Vor Weihnachten habe ich kostenlos einen Schlitten ergattert und einen billigen Computer für meine Tochter gekauft. Im Laden hätte ich die nicht bezahlen können.
In der Kita kann man Armut noch ganz gut verstecken, in der Schule geht das nicht mehr. Die Klasse meiner Tochter macht jedes Jahr eine Klassenfahrt. Einmal ging es an die Nordsee, eine Woche für knapp 300 Euro. Ich weiß nicht, wie andere Eltern so was bezahlen. Vielleicht sind wir ja auch die einzige Familie in der Klasse, die nichts hat. Meiner Tochter ist das alles peinlich, und sie will überall dabei sein. Das soll sie auch. Für uns bedeutet das immer, sparen, sparen, sparen. Dafür fallen dann Kino, Eisessen und der Malkurs aus."
Claudia, 38, Verkäuferin, verheiratet, 2 Kinder
"Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich kaufe Lebensmittel im Angebot und Kleidung im Second-Hand-Shop. Trotzdem reicht das Geld oft nicht, zum Beispiel für Schulzeug oder neue Schuhe. Ich muss mir nicht ständig neue Klamotten kaufen. Aber meine Töchter brauchen mindestens alle drei Monate ein neues Paar Schuhe. Die alten sind dann runtergelatscht oder passen einfach nicht mehr.
Meine Mädchen sind 11, 14 und 18 Jahre alt. Seit sieben Jahren bin ich alleinerziehender Vater und lebe von staatlicher Unterstützung. Rund 1.750 Euro kriege ich vom Amt, inklusive Miete und Heizkosten. Außerdem bekomme ich 200 Euro zusätzlich zu Hartz IV, weil ich zurzeit als Hausmeister in einer Schule arbeite. Acht Stunden am Tag. Das ist mir sehr wichtig, fast wichtiger als mehr Geld - so nehme ich nämlich am sozialen Leben teil.
Meine Große bekommt 30 Euro Taschengeld im Monat, die Mittlere 20 Euro und die Kleine 2,50 Euro in der Woche. Davon müssen die Mädchen ihre Schulsachen kaufen und außerdem das Handy bezahlen. Sie sollen lernen, mit Geld umzugehen. Vor allem, wenn man wenig davon hat."
Jürgen, 48, alleinerziehender Vater von drei Kinder
Protokolle: Simone Schmollack
Während Linke-Landesvorsitzender Klaus Lederer allgemein verlangt, dass allen "die Chance auf ein menschenwürdiges Leben gegeben wird", fordern Politiker von FDP und Grünen sowie der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky vor allem mehr Hilfe für Kinder. Der FDP-Abgeordnete Rainer-Michael Lehmann sprach sich dabei für Gutscheine statt Geld aus, etwa für Vereinssport oder Musikunterricht. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte es in einer ersten Reaktion offen gelassen, ob es mehr Geld oder Sachleistungen geben werde: Es sei denkbar, den Kindern einen Schulranzen zur Verfügung zu stellen, statt den Eltern Geld dafür zu geben.
Ähnlich äußerte sich SPD-Mann Buschkowsky. Der sprach sich erneut dagegen aus, Eltern direkt mehr Geld für ihre Kinder zukommen zu lassen. Auch Investitionen für kostenlose Kita- und Hortplätze würden Familien entlasten und mehr Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bedeuten - "aber ohne Gefahr zu laufen, dass Bargeld irgendwo versickert und nicht bei den Kindern ankommt. Wir müssen in die Welt der Kinder investieren und nicht in das Familienbudget." Auch für die Grünen-Fraktionsvorsitzende Ramona Pop sind "individuelle Förderangebote sowie ein ausreichendes und leicht zugängliches Angebot an qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung unverzichtbar".
Am Berliner Sozialgericht, mit 105 Richterstellen das größte in Deutschland, sieht Pressesprecher Marcus Howe durch das Urteil wenig Einfluss auf die aktuelle Rechtsprechung. "Die bisherigen Regelungen gelten weiter, bis der Gesetzgeber Neues beschließt", sagte er der taz. Am Sozialgericht gehen monatlich rund 2.200 Klagen zu Hartz IV ein, rund 19.000 Fälle haben sich aufgestaut. In Bezug auf eine vom Bundesverfassungsgericht ermöglichte Härtefallregelung mochte Howe keine neue Klagewelle befürchten: "Da bleibt abzuwarten, wie viele sich darauf berufen werden."
STEFAN ALBERTI
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