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Steinwürfe im Glasnost-Haus

Sowjetische Reformjournalisten und rechtspatriotische Hurrapresse im Konflikt / Auf der 19.Parteikonferenz der KPdSU verhärteten sich traditionelle Fronten / Gorbatschow vermied Festlegung / Neues Pressegesetz wurde vertagt  ■  Von Barbara Kerneck

„Dreißig und noch drei Jahre“ saß Ilja Muromez - ein tölpelhafter Lieblingsheld der russischen Bylinen (Heldensagen) auf dem Ofen einer Bauernkate, bis ihn ein göttliches Schicksal von seiner Lähmung befreite, und er sich aufmachte, sein Volk von der tatarischen Fremdherrschaft zu befreien. Auf ihn spielte Grigorij Baklanow, Redakteur der progressiven Reformzeitschrift 'Snamja‘ (das Banner) kürzlich während der 19.Parteikonferenz an, als er über seinen Kollegen und Gegner Sergej Wikulow sprach, den altgedienten Chefredakteur des großrussisch-patriotischen Hurra-Blattes 'Molodaja Gwardija‘ (Die junge Garde): „5.000 Delegierte aus dem ganzen Lande haben sich doch nicht zu dem Zweck versammelt, um zu entscheiden, ob Wikulow noch einmal 20 Jahre auf seiner Zeitung sitzen soll wie bisher, oder ob man ihm diesen Posten auch noch lebenslänglich sichern sollte? Ist er etwa der 'Recke Ilja Muromez‘?“

Baklanows Ausführungen zogen solche Tumulte im Saale nach sich, daß der Generalsekretär zum Schutz des Redners eingreifen mußte. Dies war nicht die einzige für Außenstehende rätselhafte Szene während der „Glasnost„ -Diskussion im Rahmen der Parteikonferenz. Die Debatte über das zukünftige Verhältnis von sowjetischer Presse und Gesellschaft ging in Wirklichkeit auf eine über 20jährige Familienfehde zurück und hatte die Dynamik einer sizilianischen Vendetta. Die Thesen waren festen Clans zugeordnet, es gab dabei - Prügel- und Musterknaben, und unterschwellige Leitmotive.

Der Clan der Reformpresse

Den einen Clan bildeten die Redakteure von enthüllungsfreudigen Presseorganen wie Baklanows Snamja. Zu ihnen zählen Blätter wie die literarische Monatsschrift 'Novyj Mir‘ (Neue Welt), das skandalträchtige Wochenjournal 'Ogonjok‘ (Das Feuerchen) und die 'Moskowskie Novosti‘, im Ausland bekannt als 'Moscow News‘, sowie die wöchentlich erscheinende 'Literaturnaja Gasjeta‘. Auch die Chefredakteure der Partei- und Regierungszeitungen 'Prawda‘ und 'Iswestija‘ schlugen sich auf der Parteikonferenz zu dieser Fraktion.

Nur mit einer Presse, die die heikle Rolle der einzigen Opposition gegen Machtmißbrauch im Einparteienstaat spielen darf, lassen sich ihrer Meinung nach die Gorbatschowschen Reformen verwirklichen. Nachdem wirtschaftliche Erfolge im sowjetischen Alltag bisher kaum spürbar sind, vermittelte den Sowjetbürgern in den letzten beiden Jahren vor allem die zunehmend tabulose Debatte in den Zeitungen und Zeitschriften das Gefühl, in einer neuen Epoche zu leben. Den Befürwortern der Perestroika ging es dabei vor allem um einen wirksamen Rechtsschutz für die Redakteure, die sich mit der Enthüllung von Mißständen und Berichten über Katastrophen, wie sie in der sowjetischen Presse neuerdings gang und gäbe geworden sind, noch immer formal strafbar machen, vor allem nach dem Gummiparagraphen 190 Absatz 1, „Verbreitung wissentlich erlogener und verleumderischer Aussagenm, die das sowjetische System verunglimpfen“.

Als populärster Verfechter erweiterter Presserechte trat auf der Konferenz nicht ein Journalist auf, sondern - mit einer sensationellen Rede - der Schauspieler Michail Uljanow. Er ist dem Sowjet-Publikum aus zahlreichen Filmen als Lenin-Darsteller bekannt. Uljanow zur Stimmung im Saal: „Bei den Auftritten einiger Delegierter hört man laut tönende Beteuerungen, Schwüre und Versprechungen, alle Aufgaben zu lösen. Und der einzige Störfaktor, diesen Aussagen zufolge, ist die Presse.

Wenn wir ihr nur einen Maulkorb verpassen könnten, würde schon alles glattgehen. Soll das die Wahrheit sein?“ „Wenn wir schon beim Umgestalten sind - so der Schauspieler - dann müssen wir auch unsere Beziehung zur Zeitung als zu einer „für alle Dienste willfährigen Dame“ umgestalten.

Der Clan der

„Glasnost-Geschädigten“

Uljanow bezog sich hier auf die Ausführungen seines Hauptkontrahenten Jurij Bondarjew, des wertkonservativen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, der die große Gruppe der „Glasnost-Geschädigten“ anführte. Hinter ihm standen eine ganze Reihe von patriotischen Journalen, wie die erwähnten 'Molodaja Gwardija‘ - eine Monatszeitschrift wie 'Nasch Sowremjennik‘ (Unser Zeitgenosse), und schließlich auch die 'Sowjetskaja Rossija‘, worin der berühmte Brief der Perestroika-Gegnerin Nina Andrejewna erschien. Bondarjew unterstellte den Redakteuren der Reformpresse, sie handelten nach der Maxime „Alles ist erlaubt“ und übten eine „nihilistische Kritik“ aus. Zur Bekräftigung seiner Eindrücke zitierte er den 'Volksmund‘, die Äußerung eines jungen Sowchos-Mechanikers: „Wissen Sie vielleicht, was jetzt noch für ein Unterschied zwischen einem Menschen und einer Fliege besteht? Sowohl den Menschen als auch die Fliege kann man mit einer Zeitung totschlagen!“ Ein hemmungsloses Glasnost-Verständnis, so Bondarjew, veranlasse die moderne sowjetische Presse zum „Herumgraben in Abfallgruben“, dabei fördere sie „das Fremde“, ja sogar das „Andersdenken“ und dies alles nicht etwa rein zufällig, sondern aufgrund einer finsteren Verschwörung, die mit teuflischen Mitteln nach dem Machtmonopol strebt: „Wir verraten unsere Jugend, entblößen ihre Seele dem anarchistische Geplapper, eitlen Sensationen, allen möglichen fremden Moden und dem billigen, demagogischen Flirt.“

Empört wandte sich Bondarjew gegen Uljanows Vorschlag, Chefredakteursposten in öffentlichen Wahlen zu besetzen, um Zeitungen und Zeitschriften von der organisatorischen Anbindung an lokale Machtorgane zu befreien. In einem solchen Verfahren erblickte er lediglich einen Angriff gegen die Bastionen seiner Bundesgenossen. Als Gegenargument beschwor der Alt-Schriftsteller berühmte Redakteursgestalten der russischen Geschichte, zu deren periodischer Wiederwahl sich niemand aufzurufen erkühnt hätte. Allen voran nannte er Alexander Twardowskij, den 1970 abgesetzten und 1971 verstorbenen Chefredakteur von 'Novyj Mir‘. Twardowskij, in der Chruschtschow-Ära eingesetzt, konnte seinen mutigen Kurs noch einige Jahre darüber hinaus wahren. Seine Redaktionspolitik war sozusagen eine Vorwegnahme der Glasnost.

Geschichte wird geschönt

So wagte er, Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch“ abzudrucken.

Fast im gleichen Atemzug mit Twardowskij nannte Bondarjew die Redakteure der Zeitschriften 'Nasch Sowremjennik‘, Anatolij Iwanow, und 'Molodaja Gwardija‘, den erwähnten Sergej Wikulow, außerdem den Schriftsteller Pjotr Proskurin als Beispiele bescheidener patriotischer Selbstaufopferung. Mit Ilja Muromez verbindet diese drei Männer außer dem legendären Sitzfleisch in der Tat die stete Bereitschaft zur Verteidigung des Vaterlandes gegen „fremde Einflüsse“. Und wenn es auch zwischen ihnen und der Gestalt Alexander Twardowskijs keinerlei Gemeinsamkeiten gibt, so besteht doch ein unleugbarer historischer Zusammenhang.

1969 war eine beispiellose Hetze gegen den progressiven 'Novyj Mir'-Chefredakteur angezettelt worden. Im sogenannten „Brief der 11“ wurde seine Zeitschrift bezichtigt, sich über die heroische Vergangenheit des russischen Volkes lustig zu machen, die Liebe zum Vaterland zu untergraben und die Jugend den feindlichen Einflüsssen des Prager Frühlings auszuliefern. Der „Brief der 11“ kostete ihn das Leben. Verbittert und vereinsamt starb Twardowskij 1971. Damals war ein Mensch erschlagen worden, wenn auch nicht - wie eine Fliege - mit einer Zeitung, so doch mit einem öffentlichen Brief. Unterzeichnet hatten diese Denunziation unter anderem Pjotr Proskurin, Anatolij Iwanow und Sergej Wikulow, jene drei, die Bondarjew heute mit Twardowskij in eine Reihe stellt.

Auch sonst nimmt der Romancier Bondarjew es in seiner Rede mit der Geschichte nicht so genau. Er verkehrt sogar die Fronten: So wähnt er sich Seite an Seite mit einem gewissen Herrn Sokrates, der durch ein - angeblich der Glasnost -Presse-würdiges - übles Verleumdungsspiel in den Tod getrieben worden sei. Den Selbstmord des Sowjetdichters Wladimir Majakowskij 1930 beklagt Bondarjew als Folge einer gewissenlosen Hetze von Menschen, welche alle traditionellen Werte verspottet hätten und bereit gewesen seien, dem „öffentlichen Geschmack eine Ohrfeige“ zu verpassen. In Wirklichkeit war es umgekehrt: Majakowski selbst verspottete die traditionellen Werte. Ein Manifest mit dem Titel „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ wurde 1913 als Gründungspamphlet der russischen Futuristen von ihm mit unterschrieben. Unter anderem heißt es darin: „Werft Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj usw. vom Dampfer der Gegenwart. Wer seine erste Liebe nicht vergißt, wird die letzte nicht erkennen!“

Gorbatschow uninteressiert

Die rechtspatriotische Clique der Twardowskij-Denunzianten hat ihr Vokabular ebenso unbeschadet wie ihren personellen Bestand durch den politischen Klimawechsel geschleust. Ihre Fehde mit der Gruppe der engagierten Reformjournalisten bildet auch den Hintergrund für einen der dramatischen Höhepunkte der Parteikonferenz, die doppelte Intervention Gorbatschows während der Rede des Schauspielers Uljanows, die sich auch sonst politisch aufgeweckte Sowjetbürger nicht erklären konnten. Mit fast gleichlautenden Worten wie Uljanow selbst, äußerte sich der Generalsekretär zur notwendigen Stärkung der Rolle der Presse und gegen den Mißbrauch ihrer Macht. Weshalb wurde also Uljanows Bitte, ob er noch zwei Sätze sprechen könne, ignoriert, weshalb angesichts von soviel Übereinstimmung - die verprellte Miene des Schauspielers.

Gorbatschow wollte sich nicht festlegen lassen und versuchte deshalb, gewissen Fragen überstürzt zuvorzukommen. Verschlüsselt sprach er sich gegen jegliches Monopol einer der beiden rivalisierenden Redakteursgruppen aus und wies auf Gefahren des Mißbrauchs der Presse hin: „Durch unsere Zeitungen kann ein Mensch schwer gekränkt werden, ist das etwa im Sozialismus zulässig?“ Eine Feststellung, die Uljanow zu der Zwischenfrage verleitete: „Sind Sie dafür, daß es tatsächlich keinen einzigen Fehler geben und daß kein einziger Mensch gekränkt werden dürfte und deshalb die Presse einzuschränken, oder sind Sie im Gegenteil, wie ich Sie verstanden habe, dafür, die Presse zu stärken, sogar wenn wir uns einmal irren? In diesem Kampf kann es nämlich zu Fehlern kommen...“ Gorbatschows Antwort spiegelt den Unwillen des Generalsekretärs wider, in aller Öffentlichkeit die Positionen der exponierten Redakteursgruppe um 'Ogonjok‘ und 'Snamja‘ zu beziehen: „Michael Alexandrowitsch, wenn wir es als die Hauptlektion der Vergangenheit bezeichnen, daß das Volk aus dem Prozeß des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen war, ...so müssen wir heute durch die politische Demokratie, ...das Volk in diese Angelegenheit einbeziehen. Und dabei können wir nicht die Presse - diese Tribüne des gesamten Volkes - der Herrschaft einer bestimmten Gruppe unterstellen. Früher war da eine Gruppe und jetzt eine andere. Davon ist die Rede und das muß man unterscheiden! (Anhaltender Applaus).“

Glasnost in die falsche Kehle

Die mangelnde Parteinahme der Delegiertenmehrheit zugunsten der Reformpresse, veranlaßte den zornigen 'Snamja'-Redakteur Baklanow (natürlich wieder unter Buh-Rufen) zu einer düsteren Warnung, die Glasnost als Konjunkturerscheinung zu behandeln: „Als im Jahre '37 die Prozesse im Säulensaal (stalinistische Schauprozesse im Moskauer Gewerkschaftshaus, Anm.d.A.) stattfanden und Menschen mit Plakaten auf die Straße gingen, auf denen sie Todesstrafen forderten, vermuteten sie nicht, daß man kurz darauf mit ihnen selbst genauso verfahren würde.

Wer heute gegen die Glasnost kämpft - kämpft für seine eigene Versklavung. Wenn er um das Wort bittet, wird man auch ihm dieses Wort verweigern. Ja, und was würde das überhaupt für ein Sozialismus sein, ohne Glasnost? Ein Sozialismus der Stimmlosen? Und haben wir denn, Genossen, kaum daß wir ein Schlückchen Freiheit gekostet haben, es schon in die falsche Kehle bekommen? Fangen wir schon zu husten an?“

Die Parteikonferenz hat, wie bekannt, unter anderem auch eine Resolution zur „Glasnost“ verabschiedet, offensichtlich ein Kompromißpapier, das eindeutige Forderungen zu einem neuen Pressegesetz vermissen läßt. Der Kampf wird sich in den gesetzgebenden Gremien fortsetzen. Vorläufig schwelt er unterirdisch und treibt seltsame Blüten. Im Frühjahr erschien im 'Ogonjok‘ ein Leserbrief der Witwe Alexander Twardowskijs. Sie berichtete, daß in Twardowskijs Heimatstadt, Smolensk, seiner beliebtesten literarischen Gestalt ein Denkmal gesetzt werden solle: dem Soldaten Wassilij Tjorkin, einem Schlitzohr mit schwejkischen Zügen. Frau Twardowskaja beklagte damals die taktlose Zusammensetzung der Auswahlkommission für die Skulptur: Mitglied wurde unter anderem Schriftsteller Anatolij Proskurin, der erwähnte Mitunterzeichner jenes „Briefes der 11“, der ihren Mann vor 19 Jahren den Kopf kostete. Ihre Beschwerde blieb folgenlos. „In der Presse herrscht Gesprächsfreiheit und bei den Ämtern der alte Bürokratismus im Handeln“, so Frau Twardowskaja. Daß Böcke zu Gärtnern gemacht werden, kann die Glasnost-Presse meist nicht verhindern - vorläufig schreibt sie darüber.

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