: „Stefan“ - Eine Stadt sucht einen Säugling
■ Entführtes Baby wurde innerhalb von 24 Stunden von der Polizei unversehrt wiedergefunden / Eine alleinstehende Frau hatte den Kinderwagen vor Woolworth im Wedding mitgenommen / Amtshilfe von der Ostberliner Polizei / Entscheidender Tip kam von einer Drogistin
Der Taxifahrer Klaus S. hörte die Suchmeldung am Dienstag gegen 15 Uhr über Funk. „Lindgrüner Kinderwagen samt sieben Wochen altem Baby entführt!“ schnarrte es aus dem Lautsprecher. Von da an hielten Hunderte seiner Kollegen die Augen auf. Jeder wollte das entführte Kind der Neuruppiner Eheleute Angela und Frank Schramek suchen helfen und dabei den Traum eines jeden Taxifahrers wahrmachen: einmal im Leben mit quietschenden Reifen auf den Gehweg fahren, den Verbrecher stellen und ihn stolz wie Oskar dem nächsten Schutzmann übergeben. Doch der entscheidende Tip, wer das sieben Wochen alte Kind der Neuruppiner Eheleute Schramek entführt hatte, kam diesmal von einer Drogistin. Das junge Elternpaar war am Dienstag mit Kind und Kegel zu Woolworth im Wedding gefahren, um Kacheln für die Küche zu kaufen. Während die zweijährige Tochter Corinna mit ins Geschäft genommen wurde, ließen die Schrameks den kleinen Stefan vor dem Geschäft im Kinderwagen liegen. In Neuruppin sei das gang und gäbe, erklärten sie später. Doch das idyllische Städtchen hat mit dem Großstadt-Moloch nichts gemein: Als sie nach zehn Minuten wieder zurückkamen, war ihr Kind verschwunden. Etwa eine Stunde später war ganz Berlin auf der Suche nach dem Säugling. Streifenpolizisten musterten mißtrauisch jeden Kinderwagen; insbesondere solche mit lindgrüner Farbe. Die Radiostationen schickten Suchmeldungen über den Äther, im Wedding wurde die Bevölkerung per Lautsprecherwagen um Mithilfe gebeten. Gleichzeitig durchkämmten Dutzende von Beamten die Straßen, Hauseingänge und Hinterhöfe des Bezirks. Die Ostberliner Polizei wollte nicht abseits stehen und trat den westlichen Kollegen hilfreich zur Seite: Ein Lada donnerte mit Blaulicht zu Oma Schramek ins 40 Kilometer entfernte Neuruppin, um ein Foto von Stefan zu holen. Das als Fahndungsfoto vorgesehene Lichtbild wurde von den Volkspolizisten den Kriminalkommissaren spät nachmittags am Grenzübergang Stolpe feierlich übergeben. Doch vom Jüngsten der Familie Schramek fehlte noch immer jede Spur. In dieser Stunde betrat die 31jährige Jolanta S. mit einem Säugling im Arm eine Drogerie in der Badstraße. Schon seit längerem hatte die Frau der Verkäuferin gegenüber beteuert, schwanger zu sein. Heute morgen hätte sie entbunden; nun brauche sie Windeln, Babynahrung und was sonst noch dazugehört. Als sie den Laden wieder verlassen hatte, fuhr der Lautsprecherwagen am Geschäft vorbei. Die Drogistin griff zum Telefon und wählte 110. Rund 18 Stunden später betraten mehrere Polizisten einen Hauseingang in der Weddinger Pankstraße. Auf dem Treppenhaus kam ihnen Jolanta S. mit dem Baby auf dem Arm entgegen. Sie habe den Kleinen gefunden und mitgenommen, erklärte sie. Dann wurde sie abgeführt und Stefan Schramek zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Dem Kind fehlte nichts, Frau S. hatte es vorbildlich versorgt. Die Täterin hätte auf Grund einer „genauen Personenbeschreibung“ identifiziert werden können, erklärten die Kripo-Mitarbeiter gestern.Warum Jolanta S. das Kind geklaut hat, konnte die Polizei gestern noch nicht ausführlich beantworten. Eine Vernehmung hatte noch nicht stattgefunden. Die geschiedene Frau wurde in Polen geboren, lebt seit 1988 in Berlin und hat eine zweijährige Tochter, die nicht bei ihr lebe und die sie auch nicht sehen dürfe, hieß es. Bei der Polizei war sie in der Vergangenheit mehrfach mit „ungerechtfertigten Anzeigen wegen Kindesentziehung“ vorstellig geworden, teilte ein Kriminaloberrat mit. Auf die Drogistin, die den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, habe sie einen „verwirrten Eindruck“ gemacht, berichtete er weiter.
Gestern abend landete der Säugling wieder in den Armen seiner 17jährigen Mutter und seines 23jährigen Vaters beide waren den Umständen entsprechend glücklich. Weniger glücklich war eine unbekannte junge Mutter, als ein Taxifahrer gestern nachmittag mit quietschenden Reifen am Lehrter Stadtbahnhof vor ihrem lindgrünen Kinderwagen stoppte und sie fragte, ob das Baby denn wirklich ihr gehöre. Ein polizeilicher Großalarm konnte nur verhindert werden, weil sich ein anderer Taxifahrer, der wenig später hinzukam, vom Sorgerecht der Frau überzeugen ließ.
CC Malzahn
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