Statt neuer Schulbücher nur alte Grabenkämpfe

■ Bilanz eines Schuljahres (Teil 2)/ In Ost-Berlin müssen sich Schüler, Lehrer und Eltern mit dem Westsystem arrangieren/ Für das Ausprobieren eigener Konzepte blieb kein Raum/ Die Ostlehrer stecken in der Krise — und auch die Gewerkschaft bietet keinen Rückhalt/ Von Detlef Berentzen

In Ost-Berlin geht das erste Schuljahr nach Westreglement zu Ende. Im ersten Teil der Serie beschrieb der Autor, wie unterschiedlich die Bilanz dieser Übernahme ausfällt: Der Senat ist stolz auf die »Aufbauleistung«, die Elternvertreter aber fühlen sich vielfach übergangen.

Chancengleichheit der nun in Ost- Berlin angebotenen Schultypen ist für Elternvertreterin Sybille Walter aus Treptow eine wichtige Forderung. Angesichts des großen Runs auf die Gymnasien sei eine eklatante Benachteiligung der Gesamtschulen zu verzeichnen. An ihnen sollten eigentlich zu gleichen Teilen Schüler mit Hauptschul-, Realschul- und eben auch mit Gymnasialempfehlung zu finden sein. Doch Pustekuchen:

»Die Gesamtschulen haben sehr schwierige Startbedingungen, weil die Drittelparität nicht gewährleistet ist. In Treptow beispielsweise sind nur noch zehn Prozent Schüler mit Gymnasialempfehlung zu finden. Der größere Teil hat hingegen eine Hauptschulempfehlung, und das hat natürlich Auswirkungen auf das Lernniveau. Ich glaube, daß die Gymnasien von Senatsseite bevorzugt behandelt werden. Denn wenn ich der Gesamtschule eine Chance lassen will, muß ich die Drittelparität einhalten. Dafür braucht es aber zunächst genügend Hauptschulen, damit die Eltern ihre Kinder nicht unbedingt auf die Gesamtschule schicken müssen. Hauptschulen gibt es aber noch in den wenigsten Bezirken Ost- Berlins. Das ist ein arges Versäumnis; mit der Folge, daß die Gesamtschulen einfach nicht in der Lage sind, Schüler mit Hauptschulempfehlung abzuweisen und in genügender Zahl solche mit Gymnasialempfehlung aufzunehmen.«

Alte Grabenkämpfe

Das im Gegensatz zu den Gymnasien demokratische Konzept der Gesamtschulen, paritätisch Schüler jedes Lernniveaus unter einem Dach zusammenzuführen, wird auf diese Weise entwertet — obwohl 60 Prozent der Eltern in den neuen Bundesländern den gemeinsamen Unterricht ihrer Kinder auch nach der Grundschule befürworten. Einmal mehr bewahrheitet sich die These des Schulkritikers Klaus Hurrelmann, nach der »die schulideologischen Grabenkämpfe der alten Bundesrepublik in den neuen Bundesländern munter weitergespielt« werden. Das Gymnasium erhält seiner Meinung nach nicht auf Grund seines Bildungsprogramms einen immer stärkeren Zulauf, sondern weil sein gesellschaftliches Prestige traditionell als das höchste gilt.

Doch wie dem auch sei: Eliten sind Trumpf. Und das gerade in den CDU-regierten oder mitregierten Ländern. Berlin ist eines davon. Schulpolitik hierzulande wird eben von den Konservativen gemacht. Auch für den Osten der Stadt... Wohl deshalb fällt Sybille Walters Bewertung des zurückliegenden Schuljahres in Ost-Berlin nicht gerade berauschend aus: Eine »Drei bis Vier« vergibt sie.

Schulbücher fehlen

Die bildungspolitische Sicht des zurückliegenden Schuljahres von der Warte des Schulsenats oder des Landesschulbeirats ist die eine Sache. Vor Ort indes sieht alles noch einmal anders aus. Im gewendeten Alltag Ost-Berlins müssen sich die Eltern erst einmal neu orientieren, was ihnen, wie bekannt, einige Schwierigkeiten bereitet. Wer von ihnen nun dachte, zumindest die Umstellung der Schule auf Westreglement würde perfekt und reibungslos über die Vereinigungsbühne gehen, mußte einsehen, daß er sich Illusionen machte. Daß nicht einmal Schulbücher in ausreichendem Maße vorhanden waren und teilweise noch sind, läßt Brigitte Fechner, Mutter von zwei Töchtern, schier aus der Haut fahren. Sie hatte vom Westen ein wohldurchdachtes Konzept für die übernommenen Schulen erwartet: »Ich war vollkommen überfordert und wütend. Zwar ist mir klar, daß alles unerhört schnell gehen mußte, aber ich verstehe eben nicht, warum zum Beispiel der offensichtlich gar nicht schlecht funktionierende Schulbuchverlag Volk und Wissen vor die Tür gestellt und gesagt wurde, daß der Westen das mit der Schulbuchauslieferung schon machen würde. Die westlichen Verlage waren doch offensichtlich zu einer ausreichenden Versorgung mit Schulbüchern nicht in der Lage.«

Die Schuld am Lehrbuchdesaster lag und liegt bei den Westverlagen, ist aus den Bezirken zu hören. Während die Verlage die zu späten Bestellungen der Bezirke kritisieren. Man spielt »Schwarzer Peter« und desorientiert besorgte Eltern einmal mehr. Die sind, nach Brigitte Fechners Meinung, ohnehin in der Regel noch mit dem Begreifen des neuen Schulsystems überfordert. Vielleicht nicht so sehr, wie noch zu Beginn des Schuljahres, als Eltern nachfragten, »ob es denn auch diesmal wieder einen Fahnenappell geben würde«, aber immerhin: Sie müssen sich, geht es nach Brigitte Fechner, als Eltern neu definieren:

Widerstand als neue Erfahrung für Eltern

»Als Vater oder Mutter muß man sich konfrontieren, Forderungen stellen und Positionen beziehen. Wir müssen lernen, uns als Eltern durchzusetzen, und das ist neu für uns. Jetzt kann man sich richtig wehren, man kann eine Elterninitiative gründen, sich einen Rechtsanwalt nehmen und seine Forderungen demokratisch durchfechten. Das müssen wir hier im Osten lernen. Meine Hoffnungen auf die Hilfe von oben, auch was den Senat betrifft, sind inzwischen außerordentlich begrenzt.«

Ostberliner Eltern werden sich ob ihrer Wünsche für Schule und Unterricht auch mit den Lehrern auseinandersetzen müssen. Doch die hält Frau Fechner für genauso überfordert wie die Eltern. Zumindest an den Gymnasien, die ihre Töchter in Berlin-Mitte besuchen. Mit Wehmut denkt sie an den Enthusiasmus der Lehrer anläßlich der Aktion »Schulnotstand« vom November 89 und die damit verbundenen Hoffnungen auf einen neuen, »dritten Weg« auch im Schulsystem. Jetzt, nach einem Schuljahr unter Westbedingungen, will sie den Pädagogen nur noch ein Armutszeugnis ausstellen: »Die Resignation und die Anpassung mancher Lehrer gehen mittlerweile so weit, daß man sich auf einer Elternversammlung von einer Lehrerin mit Blick auf ihre Schüler sagen lassen muß, diese Generation sei doch ohnehin eine ‘verlorene Generation‚. Das ist doch ein Schlag unter die Gürtellinie.«

Lehrer in der Krise

Ja, natürlich, es gebe auch noch engagierte Lehrer, aber die seien dünn gesät. Die Mehrheit der Pädagogen sei doch durch den Drill an den Lehrerbildungseinrichtungen der alten DDR »versaut« worden. Zumindest ihr Vertrauen in die Innovationskraft der Lehrer habe im zurückliegenden Schuljahr arge Brüche bekommen... Eine harte Kritik, die vielleicht nicht ganz repräsentativ für Ostberliner Eltern ist, aber dennoch Gehör verdient. Einfach weil die Auseinandersetzung mit ihr allemal besser ist als die plumpe Leugnung des Fortwirkens der realsozialistisch konditionierenden Vergangenheit in der Jetztzeit. Weil eben diese Leugnung aber oft genug mit dem Übergang zur neuen Tages- und Schulordnung- West Platz griff, fällt Brigitte Fechners Beurteilung des letzten Schuljahres reichlich mies aus: »Vier minus.«

Tatsächlich haben Mütter wie Brigitte Fechner oder auch Väter nicht unrecht, wenn sie die Lehrer in der Krise sehen. Zitate, wie die folgenden, mögen das belegen: »Ich bin einfach müde, ich mag nicht mehr und muß immer am Vormittag in der Schule noch so tun, als lebten wir in der besten aller möglichen Welten...« »Objektive Qual ist, daß man oft genug den Kindern nicht helfen kann. Als subjektive Qual empfinde ich gegenwärtig, daß ich mich wie eine Zitrone ausgelaugt fühle...«

So kommentieren Lehrer ihren Alltag. Lehrer aus dem Westen allerdings, die Pädagogikautor Herbert Stubenrauch befragte. Nun werden im Osten Berlins genügend Lehrer ähnliches empfinden, doch soll dem Autoren dieser Zeilen niemand nachsagen, er verbreite nur Pessimismus oder er sei gar ein Miesmacher. Nein, es gibt in Ost-Berlin auch Schulen, in denen man von freundlichen, aufgeschlossenen und optimistischen Pädagogen empfangen wird. In der Driesener Straße, im Kollegenkreis der 3. Gesamtschule Prenzlauer Berg war genau dies der Fall. Dort erinnert Lehrerin Elke Kaminski zwar noch die Schwierigkeiten vom Schuljahresanfang, doch ohne einen Anflug von Zorn:

Mut zur Wut

»Stellen Sie sich vor, Sie kriegen ein Haus, 50 Erwachsene, 500 Kinder und den Auftrag, daraus eine ordentliche Gesamtschule zu machen. Zu Beginn des Schuljahres waren wir uns alle noch so unbekannt, daß wir fast eine Wandzeitung mit unseren Paßbildern darauf ausgehängt hätten, um unsere Namen zu lernen.«

Elke Kaminsky ist, wie viele ihrer KollegInnen, überzeugte Gesamtschullehrerin, und so wird es sie gefreut haben, daß in diesem Jahr sogar »freies Lernen« anläßlich eines »Sommerkursprogramms« auf dem Lehrplan stand: Themenübergreifender Projektunterricht fand statt, und die Schüler konnten endlich einmal selbst entscheiden, was Gegenstand ihrer vielleicht vorhandenen Lernbegierde sein sollte — wahrlich ein Novum für ehemalige DDR- Scholaren. Die Lehrer hat's gefreut, sehen sie doch das Kursprogramm als Motivationsschub an. Wie sie sich ohnehin motiviert fühlen. Nicht zuletzt, so Frau Kaminsky, durch die Weiterbildungsmaßnahmen, die sie bislang mit ihren Kollegen in Anspruch nahm: »Wir haben beispielsweise eine Fachtagung mit einem Kreuzberger Psychologen gehabt, der uns vermittelte, wie wir mit dem Frust und dem Streß an der Schule fertigwerden können. Der Mann hat bestätigt, daß unser Optimismus und unser Idealismus das richtige Bollwerk gegen die üblichen depressiven Erscheinungen hier im Osten abgab. Außerdem haben wir spielerisch manch pädagogisch schwierige Situation durchgespielt, um zu Lösungen für unsere Alltagspraxis zu kommen. Gelernt haben wir auch, daß wir zu unserer Entlastung ruhig auch mal wütend sein dürfen, ansonsten aber gerade das Gespräch untereinander fördern müssen. Genau das haben wir getan.«

Man fühlt sich inzwischen wohl an der 3. Gesamtschule Prenzlauer Berg, betont auch die stellvertretende Schulleiterin Ursula Petri. Trotz aller Widrigkeiten. Auch wenn es beispielsweise für den Umgang mit den sogenannten »schwierigen« Schülern noch keine Hilfestellung wie im Westen gibt. Sozialpädagogen und Schulpsychologen stehen für die Driesenerstraße einfach nicht zur Verfügung. Trotzdem, so Frau Petri, weiß man sich in puncto »Krisenintervention« selbst zu helfen: »Wir als Schulleitung unterstützen die Kollegen, indem wir sehr, sehr viele Gespräche mit ihnen, mit den Schülern und ihren Eltern führen. Das erfordert sehr viel Kraft, und gerade die Kollegen, die sich engagieren, haben einen 24-Stunden-Tag. All das wird zusätzlich gemacht, während in West-Berlin dafür besondere Stellen vorgesehen sind.«

Folgt man Frau Petri, dann findet zumindest an ihrer Schule das Etikett »Verlorene Generation« für die Schüler keine Verwendung. Man bemüht sich. Sogar mit Unterstützung: Die beiden westlichen Partnergesamtschulen im Wedding und in Kreuzberg, die Schering- und die Carl-von-Ossietzky-Oberschule, seien hervorragende Ratgeber für den neuen Schulalltag, wird gelobt.

Die Basis hilft sich selbst

So hilft sich die Basis selbst, denn »von oben«, von seiten des Senats, erwartet man nach den Erfahrungen des ersten Gesamtberliner Schuljahres keine Unterstützung. Der enorme Einsatz an der Schule, der von Senatsseite, wie gehört, so gelobhudelt wurde, fände nicht einmal finanzielle Honorierung, klagt Frau Petri: »Wir werden einfach in unserer Arbeit nicht anerkannt. Nach wie vor sind wir den westlichen Kollegen nicht gleichgesetzt. Das betrifft die Bezahlung mit nur 60 Prozent der Westgehälter ebenso wie die Einstufung nach Alter und Dienstjahren. Dabei arbeiten unsere Kollegen genauso gut wie die Westkollegen, ja, ich würde sogar sagen, wir haben im letzten Jahr Unwahrscheinliches geleistet. Auf jedem Gebiet.«

»Wir warten auf die versprochenen 80-Prozent-Gehälter«, und da müsse »zügig« etwas entschieden werden, ergänzt Elke Kaminsky, wenn der Protest der Kollegen nicht radikaler werden solle, denn wer, außer ihnen selbst, könnte sonst schon etwas bewegen? Das verwundert: Als Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft müßte sie doch eigentlich auf die Durchsetzungskraft ihrer Interessenvertretung hoffen. Doch im Hinblick auf die GEW ist Kaminskys Optimismus im Laufe des Schuljahres verflogen. In der Westgewerkschaft gäbe es »keinen Rückhalt« für Ostlehrer, keine wesentlichen Gemeinsamkeiten. Eine Kritik, der Ursula Petri nur beipflichten kann:»Der Vorstand der GEW, überhaupt alle, die da oben arbeiten, haben überhaupt keine Ahnung, welche Probleme wir Ostberliner haben. Sie können sich gar nicht in unsere Problemwelt hineinversetzen. Ich denke, daß der GEW-Vorstand, auch wenn er in der Mehrheit aus Westkollegen besteht, verpflichtet ist, sich an der Basis zu orientieren. Und was vergibt sich ein Erhard Laube, wenn er mal zu uns an die Schule kommt und mal hört, was hier vor sich geht? Dann könnte er herausbekommen, was hier in Ost-Berlin wirklich vorrangig ist.«

Der dritte Teil der Bilanz erscheint am Mittwoch.