Stasi-Knast: "Eine kleine Affäre mit diesem Ort"
Gilbert Furian saß sieben Monate im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Heute zeigt er es Besuchern. Bei den Führungen redet er sich alles von der Seele.
Den scharfen Knall würde Gilbert Furian überall wiedererkennen. Dieses kalte, laute Schürfen von Metall, wenn der eiserne Riegel zur Seite geschoben wird. Sieben Monate hörte er das Geräusch mehrmals täglich. Sieben Monat saß Furian in der Zelle. "Die Schließer holten mich meistens mehrere Tage hintereinander zum Verhör. Und die gingen oft von morgens bis abends", erzählt Furian. 22 Jahre ist das her.
Heute schiebt der ehemalige Häftling selbst den schweren Riegel zur Seite. Er öffnet die Zellentür für eine zehnte Klasse aus Hannover. Die Haare des 62-Jährigen sind ergraut. Die dichten Augenbrauen ziehen sich zusammen, wenn er erzählt.
Das Wort Stasi hören einige der Jugendliche aus der niedersächsischen Landeshauptstadt hier zum ersten Mal. Sie drängeln sich in die kleine Zelle: Eine Holzpritsche, ein Stuhl, ein Waschbecken. Den einzigen Farbklecks in dem Gefängnisgrau bildet die blaue Matratze mit gelben Streifen. Von der Welt draußen ist durch die Glasbausteine in der Wand nur ein milchiges Weiß zu sehen.
Seit zehn Jahren führt Gilbert Furian Gruppen durch die langen Zellenflure und den ehemaligen Vernehmertrakt. Sein dunkler Wollmantel passt zu den kalten, kargen Räumen der Gedenkstätte. Mit jeder Führung hat der Ort für ihn etwas von seinem Schrecken verloren.
Für die Besucher verläuft der Prozess umgekehrt. An den Stofftapetenwänden hängen Porträts des einstigen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Auf Holztischen stehen graue Plastiktelefone. Doch von der schrecklichen Geschichte sind in dem Ex-Stasi-Knast nur wenig Spuren geblieben. Die Grausamkeit der Verhöre und die psychische Folter offenbaren sich erst in den Erzählung der mehr als 30 ehemaligen Häftlinge, die die Besucher durch die Gedenkstätte führen.
Furians Geschichte beginnt mit einem zerfledderten, hellbraunen Schnellhefter. "Punks" steht vorne drauf. Die vergilbten Seiten darin zeigen abgetippte Interviews mit Ostberliner Punks. Anfang der 80er-Jahre hatte Furian die jugendlichen Oppositionellen über ihre Haltung zum SED-Staat befragt. Er selbst war in den 70er-Jahren wegen "negativen politischen Verhaltens" von der Uni geflogen und arbeitete als Verkehrskaufmann.
Seine kritische Haltung zur DDR-Politik versuchte er in literarischen und politischen Texte auszudrücken. Über einen befreundeten Sozialdiakon, der mit Jugendlichen arbeitete, kam er auf die Idee mit den Interviews. "Ich war damals so stinknormal bürgerlich und fand es faszinierend, wie viel Mumm die in den Knochen hatten, ihren Widerstand zu artikulieren", erzählt Furian den Jugendlichen. Die blättern in den Interviews und lachen über Zitate wie "Keine Macht, keine Grenzen, keine Bonzen" oder "Punks bumsen genauso wie andere".
Hundert Exemplare seiner Interviewsammlung hatte Furian heimlich drucken lassen und an Freunde verteilt. Zehn Hefte nahm seine Mutter mit, als sie nach Westberlin reiste. Sie wollte sie dort an Freunde verschicken. Doch bei der Kontrolle am Grenzübergang wurde sie erwischt.
Wenige Monate später - im Frühjahr 1985 - erschienen vier Männer an Furians Arbeitsplatz. Sie holten ihn zur "Klärung eines Sachverhalts" ab. Erst wurde er in der Stasizentrale in der Normannenstraße verhört. Anschließend wurde Furian in einem fensterlosen Kleintransporter direkt in das Untersuchungsgefängnis gefahren. Dass sich der Knast in Hohenschönhausen befand, sollte keiner der Häftlinge erfahren.
Hier wurde Furian weiter verhört. Erst sagte er aus, all seine Punk-Broschüren allein angefertigt zu haben. Doch diese Version konnte Furian nicht lange aufrechterhalten. Er gab den Namen der Freundin preis, die ihm beim Binden geholfen hatte. "Das hat mir zu schaffen gemacht, weil sie sich danach nicht mehr als Buchbinderin selbstständig machen durfte", erzählt er. Trotzdem seien sie bis heute befreundet. Schwieriger sei es mit seiner ersten Frau gewesen, von der er während der Haft schon geschieden war. Sie hat damals ihre Stelle als Lehrerin verloren, weil sie ihn nicht angezeigt hatte.
Furian selbst wurde zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt - wegen "Anfertigens von Aufzeichnungen, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden".
Wenn der 62-Jährige heute seine Geschichte erzählt, ist kein Groll mehr zu spüren, eher ein Gefühl der inneren Befriedigung. Was damals eine seelische Grausamkeit war, nennt er heute "eine kleine Affäre mit diesem Ort". Er lächelt dabei verschmitzt. Und fast mitleidig spricht Furian heute über seinen Vernehmer, den er noch immer "Major" nennt. Damals verband sie eine perverse Vertrautheit. Doch längst hat Furian Frieden geschlossen - vielleicht konnte er das, weil er und "der Major" später die Rollen tauschten.
1991 begegnete der ehemalige Häftling seinem Vernehmer zufällig auf der Rolltreppe im Kaufhaus am Alexanderplatz. Furian arbeitete gerade an einem Buch über die Handlager des SED-Staates, er interviewte Richter und Stasi-Informanten. "Mein Herz hat wahnsinnig geklopft, aber ich wusste, den musst du vors Mikro bekommen." Der Ex-Stasi-Mann, der inzwischen für ein privates Wachunternehmen arbeitete, war bereit dazu. "Jetzt war ich plötzlich derjenige, der etwas über ihn wusste. Das gab mir ein Gefühl der Überlegenheit", erzählt Furian.
Der Vernehmer hat sich entschuldigt und Reue gezeigt. Über Jahre hinweg hielten die beiden Kontakt. Doch nicht aus Sympathie, wie Furian klarstellt: Er brauchte ihn schlicht als Informationsquelle. Er schrieb ihm Briefe oder traf ihn, um Fragen über Hohenschönhausen zu stellen, die er Besuchern des Gefängnisses nicht beantworten konnte. "Ich glaube, der hat das als eine Art Wiedergutmachung gesehen." Vor einem halben Jahr entdeckte "der Major" jedoch, dass Furian in einem Buch ein Foto von ihm veröffentlicht hatte. Seitdem herrscht Funkstille.
Die Schüler folgen Furian in den Vernehmertrakt. Mit ruhiger, sanfter Stimmer erzählt er, wie er nach der Urteilsverkündung nach Cottbus verlegt und ohne sein Wissen auf die Freikaufsliste gesetzt wurde. Danach kam er in die "Drehscheibe" nach Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt.
Dort waren alle jenen inhaftiert, die in die BRD verkauft werden sollten. Doch Furian wollte nicht in den Westen. "Die Joghurtsorten, tolle Reisen und die sogenannte Freiheit des Westens lockten mich nicht. Trotz der Staatlichkeit war ich im Osten zu Hause", erzählt er den Schülern, die mit ihren Handys Fotos machen. 40.000 Mark hatte die BRD damals schon für ihn gezahlt. Letztlich durfte er dann doch in der DDR bleiben. Nach über einem Jahr kam er frei.
Da Furian länger als sechs Monate im Gefängnis saß und mit den Führungen nicht viel verdient, hat er Anspruch auf die Entschädigungsrente für SED-Opfer, die der Bundesrat im vergangenen Jahr beschlossen hat. Seinen Antrag auf die monatlichen 250 Euro hat Furian im September gestellt, mit einer ersten Auszahlung rechnet er in diesem Monat.
Gilbert Furian ist eine Ausnahme unter den Menschen, die in Hohenschönhausen Führungen machen: "Es gibt viele, die mit Hass im Herzen und geballter Faust hier durchlaufen. Die haben verbriefte Haftfolgeschäden, da bin ich nicht repräsentativ", sagt er über seine Kollegen. Durch die Führungen hat er sich alles von der Seele geredet.
"Ich will den Besuchern einen nüchternen und ausgesöhnten Blick auf die DDR-Geschichte vermitteln", erklärt er sein Anliegen. Eine Geschichte jenseits des "westdeutschen Blicks" auf die DDR, in der alles Unrecht war und jenseits der Verklärung, mit der etwa ehemalige Generäle mit Auftritten in Hohenschönhausen versuchen, die Gräuel zu leugnen. Die mischen sich auch mal unter Furians Besucher und versuchen, ihm zu widersprechen. Aber für ihn sind das alte verbitterte Männer, die keine Macht mehr haben.
Manchmal streitet er sich auch mit Besuchern, ob die DDR nun eine Diktatur gewesen sei oder nicht. Für Furian zeigt der Diktaturbegriff nur eine Seite der Medaille. Natürlich habe der Staat die Menschen entmündigt, aber er habe auch für sie gesorgt. "Da muss ich mir schon mal anhören, dass mich die Stasi einer Gehirnwäsche unterzogen hat."
Aus seinem Lederbeutel holt er einen Teil seiner Stasiunterlagen heraus. 1990 hat er sich durch den halben Meter Akten gekämpft. "Schreiber" war sein Deckname, auf dem Fahndungsfoto ist ein gut aussehender Mann in Rollkragenpulli zu sehen, die dichten Haare damals noch dunkel. "10.18 verließ Schreiber mit grauem Lederbeutel die Schwedter Straße ", liest er vor. Die Schüler gucken auf den alten Lederbeutel neben ihm und lachen, aber es ist nicht mehr derselbe wie damals. "Haben sie denn gar nicht gemerkt, dass sie observiert wurden?", fragt eine Schülerin. "Nein, ich war viel zu naiv, um zu wissen, dass das mit den Interviews verboten war."
Nach seine Freilassung bekam er eine Arbeit zugewiesen, er überprüfte fortan am Laufband Radios. Sein Verteidiger Lothar de Maizière - der 1990 der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR werden sollte - empfahl ihm, auf keinen Fall einen Wechsel der Arbeitsstelle zu beantragen. Gilbert Furian versuchte es trotzdem - und hatte Erfolg. Er begann als Organisator in der Berliner Domkantorei zu arbeiten, dort hatte er schon seit Jahren im Chor gesungen. Mit der Staatssicherheit hat er nie wieder Probleme bekommen, 1988 durfte er sogar mit dem Chor nach Holland reisen.
Dann kam die Wende. Furian saß in Prenzlauer Berg mit am runden Tisch. "Damals war alles möglich, ich habe auf ein ostdeutsches Gemeinwesen ohne die alten Machthaber, aber auch ohne den reichen Bruder aus dem Westen gehofft." Naiv sei das angesichts des ökonomischen Drucks und des starken Einflusses des Westens gewesen.
1991 wurde seine zweite Frau Pastorin in einer kleinen Gemeinde in Brandenburg. Furian wurde Hausmann. Bis heute kümmert er sich um die beiden Söhne, die jetzt 13 und 18 Jahre alt sind. Dadurch habe er es einfacher als andere Ostdeutsche gehabt. "Ich musste mich nicht auf dem Arbeitsmarkt profilieren oder Wartemarken auf Ämtern ziehen."
Der Rundgang mit den Schülern ist zu Ende, Fragen haben sie keine mehr. Furian geht ins Lese-Café auf dem Gelände und wartet auf seine nächste Führung. Dort gibt es auch die Interviews mit den Punks zu kaufen. Sie wurden neu gebunden und erweitert. Furian hat sie vor sieben Jahren noch einmal interviewt. Die Aufständigen von damals haben heute Firmen, sind Radiomoderatoren oder Schauspieler wie Bernd-Michael Lade, der lange den Leipziger Tatort-Kommissar spielte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!