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Stasi: Deutschlands »neue Juden«?

■ Wilmersdorfer PDS vergleicht Enttarnung von Stasi-Mitarbeitern mit der Judenverfolgung im Dritten Reich

Wilmersdorf. Die Chance, einen ernstzunehmenden Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu leisten, hat die Wilmersorfer PDS vertan. Auf einer öffentlichen Veranstaltung verglichen die Genossen des Witwenbezirks die »aktuelle Hetzjagd« auf frühere Stasi-Mitarbeiter mit der Judenverfolgung im Dritten Reich.

»Die neuen Juden — Stasi, Asylanten, Andersdenkende« lautete der Titel der Diskussionsrunde, zu der die PDS am Freitag abend in die Cäcilien-Grundschule eingeladen hatte. Der Vergleich mit dem unvergleichbaren Holocaust sein zwar »etwas provokant«, räumte Versammlungsleiter Roni Jacobowitz ein, aber gerechtfertigt. »Heute wird wie früher eine Bevölkerungsgruppe ausgegrenzt und kriminalisiert«, sagte der Obergenosse und verwies auf den Selbstmord des Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege. »Stasi-Angehörige sind der neue Prügelknabe der Nation, die Kampagne gegen sie soll von der wirtschaftlichen Misere ablenken«, ergänzte der Chefideologe der Wilmersdorfer PDS, Willi Gettel.

Der Berliner Landesvorstand der PDS distanzierte sich von der Veranstaltung der Wilmersdorfer Parteifreunde. »Strikt weisen wir jeden Versuch zurück, die historische Beispiellosigkeit der Verbrechen des deutschen Faschismus von 1933 bis 1945 zu leugnen oder zu verwischen«, schrieb ihnen PDS-Chef André Brie in einer öffentlichen Erklärung hinter die Ohren.

Doch ohne Erfolg. Nach Ansicht der Wilmersdorfer Genossen gibt es »überhaupt keinen objektiven Grund«, ehemalige Stasi-Spitzel moralisch zu verurteilen und aus Ämtern und Funktionen auszugrenzen. »Das MfS war ein ganz normales Ministerium, das hat es in jedem anderen Land auch gegeben«, sagte PDS- Aktivist Peter Gerlinghoff. Seine Rechtfertigung, daß jeder Staat legitime Sicherheitsinteressen verfolge, hielt ihn allerdings nicht davon ab, die Praktiken des Verfassungsschutzes scharf zu verurteilen.

Als ein Genosse vorsichtig anfragte, ob Geheimdienste nicht grundsätzlich mit Demokratie unvereinbar seien, begann die Versammlung über Fehler der sowjetischen Außenpolitik, das Scheitern der deutschen Revolution und den Charakter Stalins zu philosophieren.

Zählte die Wilmersdorfer PDS im Titel ihrer Veranstaltung neben Stasi-Angehörigen auch Flüchtlinge zu den »neuen Juden«, kam sie davon in der Diskussion wieder ab. Nach Auffassung Jacobowitz' sind Stasi- Mitarbeiter und Kommunisten »als erste dran«. Denn im Gegensatz zur »Ausländerfrage« berge die »Stasi- Frage« die »Möglichkeit, auch die nichtsozialistische Linke in die Hetzkampagne einzustimmen«, sagte Willi Gretel. Die von den Bürgerbewegungen mitgetragene Idee eines Forums zur Aufarbeitung der DDR- Vergangenheit nannte er ein »Pogrom gegen Andersdenkende«.

Enttäuscht zeigte sich die Wilmersdorfer PDS darüber, daß die Mutterpartei an der beklagten Ausgrenzung mitwirke. »Der erste Fehler war der Parteiausschluß von Honecker«, schimpfte ein Genosse. Gregor Gysi müsse seine Weigerung, den Staatsratsvorsitzenden im Falle einer Auslieferung vor Gericht zu verteidigen, überdenken. Dieser Aufforderung schloß sich eine Solidaritätsadresse an Ex-Stasi-Minister Mielke an. Genosse Gerlinghoff allen Ernstes: »Mielke war ein Teil unserer Bewegung. Wenn wir das nicht öffentlich vertreten, werden wir bei den Bürgern kein Vertrauen finden.« Micha Schulze

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