Stasi-Akte des Ohnesorg-Todesschützen: Geschichte wird gemacht
Nach den Enthüllungen über den Todesschützen vom 2. Juni 1967 versuchen Konservative, die Geschichte der Studentenbewegung umzudeuten.
BERLIN | taz Der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschoss, hatte in seinen Prozessen wegen fahrlässiger Tötung Ende der Sechzigerjahre Verbündete, allen voran Springers Bild-Zeitung. Sein vorbildlicher Einsatz, hieß es, sei leider in einem von ihm nicht verschuldeten Unglücksfall geendet.
Wie schnell aus aufrechten Verteidigern der Freiheit gedungene Mörder werden - denn jetzt, nachdem Kurras Tätigkeit als IM der Staatssicherheit aufgeflogen ist, wird er zum Auftragsmörder, der gehorsam den Befehlen aus der Stasi-Zentrale folgte. In derselben Bild-Zeitung, die damals eine furchterregende Kampagne gegen die revoltierende Studenten führte, ist jetzt zu hören: "Unruhen und brennende Barrikaden, ja selbst der Tod von Rudi Dutschke haben ihren Ursprung direkt im Auftragsbereich von Erich Mielke, dem Stasi-Minister der SED (heute Linkspartei)." Man kann den delirierenden Autor Hans-Hermann Tiedje nicht unter der Rubrik "Berliner Absonderlichkeiten" verbuchen. Vielmehr geht es hier um ein groß angelegtes Manöver der historischen Mystifikation. Indem die Stasi - ohne jedes Indiz - zum Täter gemacht wird, kann die Verantwortung der Westberliner Eliten für den 2. Juni 1967 beiseitegedrückt werden.
Tatsache ist aber, dass in Westberlin seitens der Polizeiführung mit offen rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen wurde. So auch bei der Auflösung der studentischen Kundgebung vor der Deutschen Oper am 2. Juni. Schon am Tag vorher hatte die Polizei die Schlägertrupps des persischen Geheimdienstes Savak frei gewähren lassen. Kurras gehörte zu den Zivilfahndern, die unter den in eine Nebenstraße abgedrängten Demonstranten "auffällige" Studenten festnehmen sollte. "Füchse jagen" war der Code-Name.
Unmittelbar nach Kurras Schuss auf Benno Ohnesorg begannen die Verschleierungsmanöver. Die Polizeiführung streute die Nachricht aus, ein Polizist sei durch Messerstiche ermordet worden. Kurras, der Schütze, wurde sofort vom Tatort zurückgepfiffen. Er hatte Gelegenheit, das Magazin seiner Schusswaffe zu wechseln und seinen Anzug zur Reinigung zu bringen. In dem Krankenhaus, in das Ohnesorg erst nach einer Dreiviertelstunde eingeliefert wurde, entfernte man das Knochenteil seines Schädels mit der Einschussstelle. Das Beweisstück blieb unauffindbar.
Im Verfahren machte Kurras geltend, er sei mit dem Messer bedroht worden und habe in Notwehr gehandelt. Kein Zeuge konnte diese Version bestätigen. Kurras verwickelte sich in Widersprüche. Einmal will er zwei Schüsse abgegeben haben, darunter einen Warnschuss. Dann wiederum soll es nur ein Schuss gewesen sein. Trotz offensichtlicher Schutzbehauptungen sprach des Landgericht Kurras in erster Instanz frei. Das Gericht argumentierte, dass es sich "nicht mit Sicherheit ausschließen lässt, dass es sich beim Abdrücken der Pistole um ein ungesteuertes, nicht vom Willen beherrschtes Fehlverhalten des Angeklagten gehandelt hat". Also keine Fahrlässigkeit, sondern Freispruch mangels Beweises.
Der Rechtsanwalt Otto Schily, der damals die Nebenklage vertrat, erstritt erfolgreich eine Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof. Er wolle ein Tonband eines Journalisten vorlegen, auf dem nur ein Schuss zu hören war. Aber merkwürdigerweise erwies sich die Tonbandaufnahme als unbrauchbar.
Man muss die Westberliner Vorgeschichte von Kurras Tat ebenso in Anschlag bringen wie die anschließenden Vertuschungsmanöver der Polizei und die skandalösen Freisprüche, wenn man die Geschichte des 2. Juni begreifen will. Oder war auch das alles das Werk der Stasi?
Die damaligen radikalen Linken in Berlin standen dem SED-Regime samt seiner Stasi fast durchwegs kritisch gegenüber. Aktivisten von damals fordern deshalb jetzt eine genaue Prüfung aller relevanten Unterlagen bei der Birthler-Behörde. Das ist sinnvoll, zumal die Stasiakten offenbar unveröffentlichte Protokolle von Augenzeugen des Geschehens enthalten. Eine Wiederaufnahme des Prozesses wegen Mordes zu fordern, ist indes mehr als 40 Jahre danach juristisch wenig aussichtsreich. Erst recht, wenn sie nur politisch zweckmäßig erscheint. Aufklärung ist geboten, Propaganda nicht.
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