■ Standbild: Kinder der Nacht
„Berliner Nachtschwärmer“, Sonntag, 0.30 Uhr, ARD
Wenn man erst kürzlich zum zweiten Mal Vater geworden ist, reduziert sich das Nachtleben auf wiegende Spaziergänge durch die Wohnung. Da ist man auf andere angewiesen, und Jürgen Boettcher ist mein Mann. Hin und wieder zieht er durchs nächtliche Berlin, hält die Kamera drauf und erzählt mir davon. Meine Tochter ist dann oft dabei, und manchmal wünsche ich mir, wir könnten tauschen, Boettcher und ich.
Da die „Berliner Nachtschwärmer“ nur selten schwirren, treten sie geballt auf: Harald Juhnke, Feuerwehr, ein von Feeling B inszeniertes Punkmittelalter-Spektakel, Avantgardemode, Bahnhof Rummelsburg, die Stadtschloßattrappe, Schwoof im Restaurantschiff, die Gbrüder Pfister, Gewerbehöfe inklusive Lemonbabies und Space Cowboys, Travestie und Element of Crime. Das alles in 45 Minuten. Das Nachtleben da draußen muß exponentiell schneller geworden sein, seit ich hier drinnen bin, denke ich.
Es sind die Orte, die die Großstadtmotte Boettcher anziehen. Die Menschen kommen nicht zu Wort, sie sind nur Staffage. Ist der Ort nicht pittoresk genug, macht ihn die Nacht dazu. Selbst im Regen vorbeifahrende Straßenbahnzüge erscheinen dann geheimnisvoll. Boettcher verschränkt das Leben mit der Kunst, seine Klammer ist allein die Nacht. Kein Hintergrund, nur Abziehbild, eine sich im Rhythmus des Sendeschemas wiederholende Impression. Aber er läßt sich beim Schneiden erholsam viel Zeit, die Nacht fließt dahin, und meine Füße schlurfen über den Teppich.
Ich trete ans Fenster, und der letzte Satz schwingt noch im Ohr: „In dieser Zwischenzeit entfalten sich unglaubliche Blüten.“ Ich sehe hinunter auf die Straße und stelle mir vor, es würde regnen, als die Straßenbahn vorbeifährt. Hier drinnen ist es nicht so sehr anders als da draußen bei Herrn Boettcher. Thomas Winkler
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