Städtebauliches Engagement in der Pariser Banlieue: „Auch wir sind der Staat“
Globetrotter
von Elise Graton
Abschaum, Irre, Mörder …“, ergänzt Vincent Lavergne seine Auflistung der typischen Pariser Vorstadtbevölkerung zu Zeiten des Mittelalters, die zunächst noch harmlos mit „brotlosen Bauern“ angefangen hatte. Indes erhebt sich aus dem Publikum eine Mischung aus gespielter Empörung und Gelächter. Wie angefeuert fügt er hinzu: „Und die Lepra-, die Pestkranken, die Aussätzigen!“
Seinen Vortrag über die Entwicklung von Städten hält der Architekt in der Mediathek der Pariser Banlieue-Stadt Bagnolet. Aus den früheren Slums um Paris sind schicke Viertel geworden. Die Vorstadt ist weitergezogen und mittlerweile in Bagnolet angekommen. Die Probleme und der schlechte Ruf auch. Das wissen die Leute hier nur zu gut.
Eingeladen wurde Lavergne von der „Université populaire“. Die Konferenzreihe entstand 2014 aus einer Bürgerinitiative und bietet seitdem in regelmäßigen Abständen Tagungen zu aktuellen Themen – Eintritt frei. Der heutige Dezemberabend, zu dem sich etwa 20 NachbarInnen, Jugendliche und StadtplanerInnen einfinden, steht unter dem Motto „Die Aneignung der Stadt durch ihre Bewohner“.
Über den lokal steigenden Trend des Cohousings wird referiert und an die „Castors“ (Bieber) erinnert – jene kooperative Selbstbaubewegung Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wartezeit auf eine Sozialwohnung bei über zehn Jahren lag und sich große Slums um Paris auszubreiten begannen.
Nun wachsen die Slums wieder. Seit etwa 15 Jahren beobachtet Julien Beller die Entwicklung um seine Stadt Saint-Denis, die nördlich von Bagnolet liegt. Von der RER-Bahn aus, die vom Flughafen Roissy zur Pariser Innenstadt führt, kann man sie sehen: vor allem Romafamilien wohnen hier. Beller ließ das keine Ruhe. Zunächst half ihnen der Architekt auf eigene Faust. Dann organisierte er ein paar Trockentoiletten mit der Unterstützung der Stiftung Abbé Pierre. Schließlich überredete er noch die Kommune dazu, 55 Häuser zum Selbstbau à 10.000 Euro zu finanzieren. Dabei entsprachen sie nicht mal den regulären Baunormen, zum Beispiel in puncto Isolierung. Aber als Notlösung drückte die Behörde ausnahmsweise ein Auge zu.
Für sein unorthodoxes Engagement musste er viel Kritik seitens etablierter Hilfsorganisationen einstecken. Aber Beller ist überzeugt: „Man muss manchmal auch außerhalb der Norm agieren. Der Staat hat kein Geld – und momentan steigt der Wille der Bürger, Dinge auch mal selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt genug Leute, die sich engagieren wollen.“
Man meint bei Beller fast einen leisen revolutionären Unterton auszumachen. Wie ein Prediger ruft er dazu auf, sich nicht bloß bedienen zu lassen, sondern den Staat aktiv zu infiltrieren. Konfrontation sei zu meiden und Kompromissbereitschaft muss signalisiert werden, aber „der Staat sind auch wir!“. Dank der Bewegung könnten BürgerInnen nun endlich auch zwischen den Wahlgängen zu politischen Akteuren werden.
Auf die Frage, ob man dabei nicht Gefahr läuft, einem seiner sozialen Verantwortung nicht nachgehenden Staat in die Hände zu spielen, entgegnet Beller: „In Seine Saint-Denis erlebt man Situationen extremer Armut, auf die das System nicht mehr antworten kann. Da muss man selbst anpacken.“ Klar müsse sich der Staat bewegen, indem er die verschiedenen Initiativen anerkennt, sie begleitet und weiterentwickelt.
Leider sei es ja schon oft passiert, dass selbstgebaute Viertel mit Polizeigewalt und ohne Alternative dem Boden gleichgemacht wurden. Aber mittlerweile zeigt es sich, dass die Lokalpolitiker, meist Kommunisten oder Front de gauche, für innovative Konzepte durchaus offen sind. „Sie haben auch ein Interesse daran, wieder eine Verbindung mit ihren Bürgern herzustellen: Es geht ja keiner mehr wählen, das Vertrauen in die Politik ist gleich null“.
Für Beller steckt in der Banlieue viel Potenzial. Natürlich gibt es Leere und Mangel. Aber anders als in der Innenstadt auch viel Freiraum, um mit etwas Flexibilität auf aktuelle Herausforderungen reagieren zu können.
Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen