Stadtporträt über Lemberg: Narbiges Antlitz
Lutz C. Kleveman erkundet das ukrainische Lemberg und stößt auf eine schwierige Vergangenheit, die die Stadt lieber verdrängen will.
Im Herbst 1990 rissen Lemberger Bürger das Lenin-Denkmal nieder. Endlich gab der Sockel aus Granit nach, Herbeigeeilte schwangen Hämmer, um das Symbol der Sowjetherrschaft vollends zu zerstörten – und hielten inne. Unter der Granithaut bestand der Sockel aus Grabsteinen mit hebräischen Inschriften. Die Deutschen hatten den jüdischen Friedhof 1944 zerstört, die Sowjets herumliegende Grabsteinhaufen später verbaut.
Diese knappe Szene beschreibt der Journalist Lutz C. Kleveman in seinem zwischen Essay, historischer Recherche und Reiseführer oszillierenden Stadtporträt über Lemberg. Diese Episode ist eine Metapher für die verschüttete, traumatische, von den totalitären Gewaltregimen des letzten Jahrhunderts bestimmte Geschichte dieser Stadt. Schon ein paar zufällig gesetzte Hammerschläge reichen, um sie zum Vorschein zu bringen.
Lemberg, ukrainisch Lwiw, gehörte zwischen 1914 und 1991 zu sieben verschiedenen Staaten, zu Österreich-Ungarn und Polen, zur Sowjetunion und zur Ukraine. In den 40er Jahren wurde die multiethnische Stadtgesellschaft, eine Mixtur aus Juden, Polen, Ukrainern, Armeniern, Deutschen, erst von Stalins Terrororganisationen heimgesucht, dann vom Vernichtungskrieg der SS. Ende der vierziger Jahre gab es in Lemberg kaum noch Bewohner, die dort schon zehn Jahre zuvor gelebt hatten. Die Oper und die barocken Ensembles im Zentrum hatten den Krieg recht heil überstanden – die jüdische Gemeinschaft war von den Deutschen ermordet, die polnische von Stalin vertrieben worden. Ein Gespenster-Ort.
Lutz C. Kleveman: „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas“. Aufbau Verlag, Berlin 2017, 315 Seiten, 24 Euro.
Kleveman lässt sich 2014 durch die Stadt treiben, erfasst den eigentümlichen Charme, der sich aus der wundersam erhaltenen K.-u.-k.-Architektur mit italienischem Barock und der noch immer präsenten verwitterten realsozialistischen Anmutung speist. Die Tourismusströme fließen nicht erst seit dem Krieg im Donbas spärlich. Für die Stadt ist das ein Malus, für die wenigen Besucher hat es den Vorteil, von Easyjet-Tourismus und der marktgängigen Zurichtung der Innenstadt verschont zu bleiben.
Lemberg hat etwas Rohes, Unverstelltes, ein narbiges Antlitz. Die raren touristischen Hotspots sind eher skurril. In einem dem Literaten Sacher-Masoch, Sohn der Stadt und Namensgeber eigenwilliger Sexualpraktik, gewidmeten Restaurant wird der Autor, ohne Böses zu ahnen, mit zwei Peitschenhieben begrüßt – „kräftig durchgezogen von einer Kellnerin im Domina-Kostüm“.
„Die höchste Eisenbahn“ könnten mit ihrem Landstreicher-Pop abheben. Bis es soweit ist, tingelt die Band durch die Provinz. Wie lebt es sich auf dem Sprungbrett zum Erfolg? Die taz.am wochenende vom 8./9. Juli war mit auf Tour. Außerdem: Holger Klukas lebt von Hartz IV und ist der wohl ärmste Bürgermeister Deutschlands. Und: Warum Donna Leon niemals Muscheln aus der Lagune in Venedig essen würde. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Kleveman umkreist die Stadt unvoreingenommen neugierig – suchend und ohne den auftrumpfenden Moralismus der Nachgeborenen. Das Fließende des Textes, die stete Reflexion, was man da gesehen hat, ist kein Trick, eher die langsame Verfertigung der Erkenntnis im Lauf der Erkundungen. Bei denen kristallisiert sich deutlich heraus, dass die Stadt 70 Jahre danach auf der Flucht vor der Geschichte ist.
Auch Ukrainer waren an dem von Nazis und Wehrmacht organisierten Massenmord an Juden beteiligt. Doch das Pogrom von 1941 wird zu einem angeblichen Pogrom verkleinert. Man fürchtet imageschädliche Schlagzeilen. Ausflüchte allenthalben. Diese Verdrängung hat durchaus einen aktuellen Nutzen. Bei präziser Beleuchtung dieser Vergangenheit müssten die Lemberger auch die jüngst errichteten Denkmäler des rechtsradikalen ukrainischen Nationalhelden Stepan Bandera vom Sockel kippen.
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