Stadtneurotiker-Film: In Bremen wird gelogen
Der Film „Lügen und andere Wahrheiten“ besteht komplett aus improvisierten Szenen. Das sollte, so Regisseurin Vanessa Jopp, ehrliche Momente einfangen.
BREMEN taz | Lügen ist wohl die häufigste Sünde: Wer kann da schon den ersten Stein werfen? So gibt es in diesem Spielfilm, in dem es keiner mit der Wahrheit zu genau nimmt, auch niemanden, der wirklich boshaft und unsympathisch ist. Es gibt in „Lügen und andere Wahrheiten“ nur arme Sünder, denen die anderen möglichst originell und unterhaltsam auf die Spuren kommen.
Erzählt wird von einer Handvoll Stadtneurotiker, die in Bremen wohnen und arbeiten. Die Zahnärztin Coco will in ein paar Tagen den Immobilienmakler Carlos heiraten, doch der schlägt in den letzten Tagen als Junggeselle etwas über die Strenge, was ihn seinen Führerschein und seinen guten Kontostand kostet. Davon darf die Braut natürlich nichts erfahren. Ihre beste Freundin hat ein heimliches Verhältnis mit ihrem Yogalehrer und die russische Zahnarzthelferin Vera versucht alles, um an Geld zu kommen, denn ihre Familie schwindelt ihr vor, der Vater sei nur durch eine teure Operation zu retten.
Die Erzählstränge werden nur lose verknüpft. Tiefe Wahrheiten werden hier ganz gewiss nicht vermittelt. Die Regisseurin Vanessa Jopp ist stattdessen auf eine filmische Wahrhaftigkeit aus. Sie möchte ehrliche Momente im Spiel der Darsteller und Darstellerinnen einfangen und darum lässt sie die Schauspieler vor der Kamera improvisieren.
2006 hatte sie nach dem gleichen Prinzip schon den Berlin-Film „Komm näher“ gedreht. Auf diese Art der Inszenierung kam sie, als sie damals zufällig einen Vortrag des britischen Theater- und Filmregisseurs Mike Leigh gehört hatte. „Leigh erzählte, dass er zusammen mit den Schauspielern Figuren entwickelt und sie dann improvisieren lässt“, sagt Jopp. „Das fand ich spannend, weil ich mir ja Mühe gebe, so zu inszenieren, dass die Dialoge sich nicht geschrieben anhören.“ Die Improvisation schien ihr ein Mittel zu sein, um die Schauspieler dazu zu bringen, aus dem Moment heraus zu agieren.
Als sie mit den Arbeiten zu „Komm näher“ begann, habe sie sich immer darauf berufen, dass Mike Leigh auch auf Improvisation setzt. Allerdings habe sie zwei Wochen vor dem Dreh erfahren, dass Leigh die Schauspieler in den Proben zwar improvisieren lasse, dann aber in einem Drehbuch alles festlege. „Ich hatte dann ziemlichen Bammel, weil ich dachte, ich wäre wohl die erste Wahnsinnige, die so arbeitet“, erinnert sich Jopp. „Komm näher“ wurde dann mit vielen Preisen ausgezeichnet und darum hat sie sich mit „Lügen und andere Wahrheiten“ noch mal für diese eine Arbeitsweise entschieden.
Vor Drehbeginn nahm sie sich viel Zeit, um gemeinsam mit den Darstellern aus realen Menschen ihre Figuren zu entwickeln. „Die Schauspieler haben dabei ganz viel eingebracht. Deswegen werden sie im Abspann auch als Mitautoren benannt“, sagt Jopp. Vorgegeben ist bei ihr im Drehbuch nur die Struktur, die Schauspieler wissen aber nie, in welche Situation sie in der jeweiligen Aufnahme mit wem gestoßen werden. „So hat jede Szene einen sehr freien Rahmen, aber das emotionale Ereignis, das in ihr stattfinden soll, muss ich schon kriegen, damit der Film weitergeht“, erklärt sie. Manchmal müsse sie die folgenden Szenen dann umstricken, damit der Film weiter funktioniere.
Schon in „Komm näher“ spielte Meret Becker die Hauptrolle. Sie ist als Coco die widersprüchlichste und kälteste Figur des Films – wer mag schon eine Zahnärztin? Coco ist eine spießige Moralistin, die alles unter Kontrolle haben will. Vanessa Jopp betont, sie habe niemanden gezwungen, eine Figur zu spielen. „Meret und ich kennen aber beide solche Frauen. Frauen, die denken, sie machen alles richtig, und wenn die anderen sich nur ein bisschen mehr anstrengen würden, wäre die Welt in Ordnung“, sagt Jopp. Meret Becker habe solch eine Figur schon lange mal spielen wollen.
„Die anderen Schauspieler spielen Typen, die näher an den Filmklischees angesiedelt sind“, sagt Jopp. Thomas Henze gibt als Bräutigam einen sympathischen Schwerenöter, Florian David Fitz ist als Yogalehrer im Grunde ein Scharlatan, Jeanette Hain eine Künstlerin, die sich selbst am meisten belügt, weil sie an an ihr Talent glaubt, und Alina Levhin spielt eine arme Migrantin ohne festes Einkommen. Sie ist wohl im Grunde die einzige, die gute Gründe zum Lügen hat.
Die Schauspieler und Schauspielerinnen wirken tatsächlich spontan und authentisch in ihren Rollen und sind oft verblüffend witzig. Tatsächlich funktioniert „Lügen und andere Wahrheiten“ am besten als Komödie und hängt bei den ernsthafteren Szenen merklich durch. So hätte Vanessa Jopp besser auf den Selbstmordversuch einer Nebenfigur verzichtet, denn er macht die Dramaturgie nur unnötig kompliziert und die vielen Tränen am Krankenbett wirken arg melodramatisch. Der 106 Minuten lange Film hätte so gut um ein Viertel kürzer sein können.
Vanessa Jopp hat aber Bremen schön in Szene gesetzt. So springt eine Fahrradkette im Walltunnel ab, eine abenteuerliche Autofahrt führt in der östlichen Vorstadt am Werder-Imbiss vorbei und das Hochzeitspaar fährt in einer weißen Kutsche am Rathaus vor. Bei der Premiere im Bremer Kino Schauburg wallte dementsprechend Lokalpatriotismus auf, aber als der Moderator Andreas Neumann dann die in Bremen geborene Meret Becker auch noch als Hanseatin vereinnahmen wollte, antwortete diese mit einem entwaffnend ehrlichen: „Aber ich war doch erst vier, als wir hier weggezogen sind.“
Der Film kommt heute in die Kinos.
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