piwik no script img

StadtgesprächMirco Keilberth aus TunisIn Tunesiens Hipstervilla ist Sami A. ein Problem Europas, das hier keiner haben will. Man wartet auf den nächsten Frühling

Elektropop tönt aus den Lautsprechern im Garten der Gründerzeitvilla an der Avenue Mohamed V in Tunis. Die Villa des Palmes ist Treffpunkt der kreativen Szene der tunesischen Hauptstadt, auch weil es Alkohol gibt und eine hohe Mauer vor Blicken auf die jungen Männer mit Hipsterbärtchen und die jungen Frauen mit ausgefallenen Frisuren schützt.

Großes Thema an den Tischen ist die vor Kurzem ergangene öffentliche Aufforderung des 91-jährigen Staatspräsidenten Beji Caid Essebsi an den Premierminister Youssef Chahed, zurückzutreten – angeblich, so wird gemunkelt, damit er stattdessen seinen eigenen Sohn als Regierungschef installieren kann. Damit sei Tunesien schon wieder mitten in der nächsten Regierungskrise, sagt die junge Aktivistin Chaima Bhoulel. Sollte der Präsident sich durchsetzen, wären alle wieder auf der Straße, wie beim Arabischen Frühling, ist man sich einig.

Die jungen Tunesier fürchten, dass die EU die Regierungskrise in ihrem Land dazu nutzen könnte, ihre Probleme in Tunesien abzuladen. Die Abschiebung des „Gefährders“ Sami A. aus Deutschland in der letzten Woche sei nur der Anfang, sagen sie.

Die mögliche Misshandlung der aus Deutschland oder Syrien zurückgekehrten oder zurückgeschickten radikalisierten Tunesier auf Polizeistationen oder im Gefängnis ist demgegenüber kein Thema. Viele Aktivisten haben Freunde, die aus nichtigem Grund die Gewalt der Sicherheitskräfte erlebt haben, auch ohne jeden politischen Grund. Das Problem ist, dass es überhaupt zu dieser Abschiebung kam.

Ein weiteres Beispiel für Europas Auslagerung seiner Probleme nach Afrika verorten die Gäste der Villa im Mittelmeer, vor der Küste der südtunesischen Hafenstadt Zarzis. Dort wartet das unter tunesischen Flagge fahrende Handelsschiff „Sarost 5“ mit 40 aus einem Boot geretteten Migranten an Bord weiter auf die Genehmigung, in den Hafen einlaufen zu dürfen, nachdem sich die Behörden auf Malta weigerten, die Schiffbrüchigen aufzunehmen, obwohl sie nach internationalem Recht dazu verpflichtet waren.

Malta will sein Migrationsproblem nach Tunesien verlagern, ist man sich in der Villa einig. Die tunesische Regierung fürchtet, dass mit der Aufnahme der Schiffbrüchigen ein Präzedenzfall geschaffen würde, und verweigert dem Kapitän die Weiterfahrt.

Der Wunsch einiger europäischer Politiker, in Tunesien und Libyen oder anderen nordafrikanischen Ländern „Asyl­zentren“ zu schaffen, von der EU „Ausschiffungsplattformen“ genannt, in denen über das weitere Schicksal der auf See Geretteten entschieden würde, stößt im ganzen Land auf einmütige Ablehnung. Lokale Politiker fürchten, dass bei einer Einrichtung solcher Auffanglager der Arbeitsmarkt rund um die Lager zusammenbrechen könnte, weil die Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte den Einheimischen Konkurrenz machen würden – so wie in Libyen.

Schon jetzt hat jeder zweite Jugendliche in Tunesiens Süden kein regelmäßiges Einkommen. Immer wieder steigen aufgrund der Wirtschaftskrise auch junge Tunesier in Fischerboote nach Italien.

Die jungen Aktivisten in der Villa des Palmes glauben, dass ihnen die Zeit davonläuft. Als ihren größten Erfolg feiern sie die Offenlegung der Besitzverhältnisse aller Regierungs- und Parlamentsmitglieder und ihrer Familien. Nach den schon unter Diktator Ben Ali geltenden Gesetzen hätte Präsident Essebsi bereits ein Dutzend Mal, nämlich alle fünf Jahre, eine solche Deklaration abgeben müssen. Wie die meisten Amtsträger kam er dem nicht nach. In diesem Thema gehört der 91-Jährige zur alten Zeit. Auch daher stößt sein Vorstoß gegen den reformwilligen Premierminister auf solche Ablehnung.

Nun wollen sich die Aktivisten um das noch nicht existierende Asylgesetz und eine Reform der Justiz kümmern. Tausende Tunesier sitzen wegen des Vorwurfs, einer Terrorgruppe anzugehören, monatelang ohne Verfahren hinter Gittern. Es gibt viel zu tun.

Und genau in diesem Moment kommt Deutschland mit seiner illegalen Abschiebung von Sami A. Die 35-jährige Chaima Bhoulel im Garten der Villa nippt an ihrem Kaffee. „Ich hoffe, dass Europa uns unsere Arbeit machen lässt und nicht selbst mit den diktatorischen Methoden vorgeht, gegen die wir hier angehen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen