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Stadtführung der besonderen ArtDer andere Blickwinkel

Es gibt viele Orte in der Schweiz, wo man meist nicht hinkommt. Dorthin gehen die Stadtführungen von Surprise, einem Verein für Obdachlose.

Der Treffpunkt zur Stadtrundführung ist in der Bahnhofshalle direkt unter der Nana-Figur von Niki de Saint Phalle Foto: imago/Travel-Stock-Image

Über Peter Conrath schwebt ein Engel. Und was für einer. Ein knallig bunter, runder, ein weiblicher, weithin sichtbar hoch oben unter der Decke des Zürcher Hauptbahnhofs. Diese beflügelte Nana von Niki de Saint Phalle soll alle Reisenden behüten. Ein mächtiger Schutz: Das Kunstwerk ist 1,2 Tonnen schwer und über 11 Meter hoch. Nun, die 1871 eingeweihte Haupthalle des Bahnhofes ist ja auch groß genug.

Ein Kunstwerk dagegen fristet ein paar Meter weiter ein Schattendasein. In den Boden des Bahnhofs eingelassen ruht „La Boule d’or centenaire“ von Dieter Meier seit Mai 2008 für 100 Jahre. Die goldene „Jahrhundertkugel“ ist hinter dem arg verschrammten Glas nicht mehr gut zu erkennen. Das Kunstwerk des Schweizer Künstlers, im Durchmesser vielleicht bloß zehn Zentimeter klein, soll auf das „Nichtige“ und „Bedeutungslose“ aufmerksam machen.

In gewisser Weise trifft das auch auf Peter Conrath und seine Mission zu. „Ich führe euch zu Orten, wo ihr sonst nicht hinkommt“, sagt er zu Beginn, „wo man hinkommt, wenn man ganz wenig oder gar kein Geld hat.“ Conrath ist Stadtführer der besonderen Art. Unter der Nana-Figur ist der Treffpunkt für den „Sozialen Stadtrundgang“ durch Zürich.

Ein Dutzend Leute sind gekommen, heute alles Zürcher, alte und junge. Unter ihnen Benjamin Bosshard, der drei Familienmitglieder zur Führung eingeladen hat, darunter seine Cousine Andrea.

Die Stadtführer sind Menschen, die selbst von Obdachlosigkeit und Armut bedroht sind oder waren. Experten fürs (Über-)Leben auf der Straße. Ein unerwartetes Angebot in einer Stadt, die wie keine zweite als Synonym für Reichtum und Geld steht. Zürich ist ja wirklich, das abgedroschene Bild passt immer noch, ein teures Pflaster.

Basel, Zürich, Bern

Die Führungen sind ein Angebot des Vereins Surprise, der in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiert, und in Basel, Zürich und Bern aktiv ist. Die Sozialen Stadtrundgänge starteten 2013 in Basel, später kamen Zürich und Bern dazu.

Soziale Stadtrundgänge

Die Touren

Die Sozialen Stadtrundgänge bieten eine andere Perspektive auf die Städte Zürich, Bern und Basel. Sie sind ein Angebot des Vereins Surprise und starteten 2013 in Basel; nach mehr als 370 Führungen dort wurden sie auch in Zürich und Bern angeboten. Es gibt in den drei Städten Touren mit unterschiedlichen StadtfüherInnen, die Touren dauern zwei bis drei Stunden, kosten 20 Franken (in Zürich 30 Franken). Es sind unterschiedliche und individuell erarbeitete Touren von Betroffenen. www.surprise.ngo

Der Verein

Seit dem Jahr 2003 gibt der Verein das Straßenmagazin Surprise heraus. Der Verein richtet sich an Armutsbetroffene und Menschen am Rande der Gesellschaft, die keinen oder einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben und bieten ihnen die Möglichkeit, einer Tätigkeit nachzugehen. In Zürich gibt es einen Surprise-Straßenchor und ein Straßenfußball-Team: Der Verein organisiert die Teilnahme der Schweizer Nationalmannschaft, die zum Home­less World Cup fährt – die nächste Straßenfußball-WM findet vom 13. bis 18. November 2018 in Mexiko-Stadt statt.

Infos

www.myswitzerland.com

Zum Beginn seiner Stadtführung spricht Peter Conrath über sich und sein bewegtes Leben. Es menschelt sehr. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Conrath will gewissermaßen ein Stellvertreter für die abwesenden Protagonisten der Stadtführung, die Armen und die Obdachlosen, sein.

Der 54-Jährige ist in Sarnen, einem Städtchen im Kanton Obwalden (in der Nähe von Luzern) geboren, er hat Höhen und Tiefen erlebt. War mal angestellt, mal freiberuflich tätig, musste seine frühe Karriere als Koch aufgeben, der permanente Stress brachte ihm Magengeschwüre ein. Er hatte verschiedene Jobs, einen Motorradunfall, erlebte Enttäuschungen, „wurde reingelegt“, brauchte all seine finanziellen Reserven auf und häufte Schulden an. Und er hat sich immer wieder aufgerappelt. Ein Stehaufmännchen. Das Bild gefällt ihm.

Peter Conrath verkauft seit 2009 die Surprise, die Straßenzeitung, hat sich mit „Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten“ und ist – man sieht, wie ihn das freut – „im Moment eigentlich schuldenfrei“. Und am Ende der Geschichte hatte er Glück: Seit 2013 arbeitet Conrath auf einer Teilzeitstelle bei Migros, einer Schweizer Supermarktkette, im Lager oder in der Abwaschküche. Das lässt ihm Zeit für die Sozialen Stadtrundgänge. Er bewohnt ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft.

Die Tour nimmt ihren Anfang im Untergeschoss des Hauptbahnhofs. Die Gruppe steigt gewissermaßen hinab. Peter – man hat sich zuvor aufs Duzen und auf Hochdeutsch geeinigt – geht voran. Hier unten ist es viel ruhiger als eine Etage höher. Dort befindet sich die Bahnhofsmission mit der Bahnhofskirche und dem Raum der Stille, der für alle Religionen offen steht. 200 bis 600 Menschen kommen zu ihrer Form der inneren Einkehr her – täglich. „Und wer niemanden zum Reden hat“, erzählt Peter, „kann zum Pfarrer gehen.“ Ein Angebot, das „vom Bankdirektor bis zum Bettler“ viele nutzen würden.

Hilfsangebote sind gratis

Gleich nebenan hat die Bahnhofshilfe „seit fast 140 Jahren“ ihren Sitz. Es gibt hier etwas zu essen für Bedürftige, es handelt sich dabei um Spenden einer Bäckerei und eines Supermarkts. Mütter stillen dort in Ruhe ihre Babys, es gibt einen Hol- und Bringedienst für ältere Reisende. „Alle Hilfsangebote sind gratis“, betont Peter. Eine wichtige Information. Denn im selben Atemzug erwähnt er, dass im Bahnhof bei McClean Pinkeln für Männer 1,50 Franken, für Frauen sogar 2 Franken kostet.

Vorneweg: Stadtführer Peter Conrath Foto: Djamila Grossmann

Es geht wieder nach oben, ans Tageslicht. Ein paar Schritte nur, und wir sind am Taubenschlag. „Da drüben auf der anderen Straßenseite“, sagt Peter fingerweisend – doch außer Menschen und Verkehr ist erstmals nichts zu erkennen. Beim genaueren Hinsehen wird klar, was er meint: Da unter den Bäumen flaniert keiner oder eilt geschäftig vorüber. Da stehen Frauen und Männer mit auffallend vielen Hunden und haben Zeit, sie unterhalten sich, mit einem Bier in der Hand. „Früher gab es an der Stelle tatsächlich einen Taubenschlag“, erzählt Peter, „ältere Damen fütterten hier Tauben, bis das der Stadt zu viel wurde.

Der Taubenschlag verschwand. Heute sind andere Vögel da“, lacht er verschmitzt. Der Name Taubenschlag für den szenebekannten Treffpunkt von Obdachlosen und auch Punks ist geblieben. „Der zentral gelegene Platz ist ein guter Ort fürs Betteln, obwohl das offiziell verboten ist – man darf sich eben nicht erwischen lassen.“

Wie viele Obdachlose gibt es eigentlich in Zürich? „Schätzungsweise 100 in der Stadt, im Kanton Zürich sind es 250“, sagt Peter. „80 Prozent von ihnen könnten in einem Wohnheim oder einer Wohnung leben, aber sie ziehen das Leben auf der Straße vor, sind also freiwillig obdachlos.“ Sie würden zum Beispiel in einem Wald, der sich hinter dem Zürcher Zoo erstreckt, schlafen, oder in einer Erdhöhle. Das sind Informationen, die in keinem Reiseführer zu finden sind.

In diesem Sinne geht es die Bahnhofstraße entlang zu einem bekannten wie begehrten Schlafplatz für Obdachlose. „Ein Vier-Sterne-Hotel“, wie Peter lachend erklärt. Denn der „Luxus-Schlafplatz“ bietet gleich vier Vorteile: Er liegt am Rande eines Verwaltungsgebäudes unter einem gemauerten Bogen, also im Trockenen. Es gibt Licht.

Schlafplatz auf Kirchengrund

Die nahe Polizeiwache sorgt für Sicherheit, weil Polizisten immer mal vorbeifahren und fragen, ob alles okay ist, wenn dort jemand schläft, und ansonsten die Obdachlosen in Ruhe lassen (auch, weil dieser Schlafplatz auf Kirchengrund liegt). Und es gibt vis-à-vis „eine öffentliche Toilette, die immer sauber ist und nichts kostet – davon gibt es in Zürich immer weniger. Das ist eine auch für Touristen nicht unwesentliche Information.

Die Führung von Peter erlaubt Einblicke in eine fremde Welt, die meist im Verborgenen bleibt. Eine Parallelwelt. Obdachlose sieht man eben eher selten im aufgeräumten und ach so sauberen und scheinbar überregulierten Zürich, wo es von Hinweis- und Verbotsschildern nur so wimmelt.

Benjamin Bosshard hat die Führung, sie dauert fast zwei Stunden, auch dieses Mal gefallen. Seine erste hat er vor einem Jahr mitgemacht. „Ich hatte sie durch Zufall entdeckt“, sagt er. „Ich fand es spannend, diese andere Seite von Zürich kennenzulernen.“ Das wäre auch etwas für meine Familie, dachte der 31-Jährige: „Weil ich glaube, dass man nach so einer Führung vieles anders sieht und versteht.“ Also hat Benjamin Bosshard Karten verschenkt.

War das denn ein gutes Geschenk? Seine Cousine Andrea, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, ist in Zürich aufgewachsen. „Ja, ein gutes Geschenk“, sagt die 24-Jährige. „Ich wusste gar nicht, dass es solche Stadtführungen in Zürich gibt. Ich war extrem gespannt, was mich erwartet, und ich bin positiv überrascht, mal einen ganz anderen Blickwinkel auf meine Stadt zu bekommen. Ich wusste zum Beispiel nicht, wo Obdachlose hingehen können zum schlafen oder essen.“ Die Führung hätte ihr die Augen geöffnet.

„Die Leute, die Surprise verkaufen, die nimmt man schon wahr“, aber das war’s dann auch schon. „Die Schlafplätze, die Hilfsangebote, was es da alles gibt, das hat mich schon überrascht, und auch, dass sich so viele Freiwillige engagieren, das ist toll.“

Die Züricher Gassenküche

Freiwillige – ein gutes Stichwort: Vorletzter Stopp mitten in der pittoresken Altstadt von Zürich. In der Häringstraße 3 liegt die „Gassenküche“, als Tourist nimmt man das überhaupt nicht wahr. Es handelt sich um eine kleine Zweiraumwohnung im ersten Stock, die bis 1973 mal als Jugendtreff fungierte, dann eine Jugend- und später Drogenberatungsstelle beherbergte und zuletzt eine Obdachlosenschlafstätte. Seit 1993 kochen hier Ehrenamtler abends für Bedürftige.

„Jeder kann hierherkommen“, sagt Peter. Und es scheint zu schmecken: Ein paar junge Männer haben sich ihr Abendessen auf Tellern mit nach draußen genommen und essen auf der Straße sitzend.

Den „Kaffee danach“ könnte man im Café Yucca nehmen, ein Angebot der Zürcher Stadtmission, es handelt sich um die letzte Station der Stadtführung. Es liegt in der Häringstraße 20, also noch in der Altstadt, und doch jenseits der touristischen Trampelpfade.

Im Yucca gibt es Rat und Unterstützung für jeden, der das sucht oder braucht, günstige Verpflegung und mittags eine Stunde lang – und auch abends ab 20 Uhr (darum ist es wohl gerade so voll) – eine Gratissuppe. Und ein Fair-Trade-Kaffee kostet hier nur 2 Franken, das ist unschlagbar günstig in einer Stadt, wo man sonst das Dreifache dafür bezahlt. Der Verein Surprise hat deshalb den „Kaffee Surprise“ erfunden: Die Daueraktion ermöglicht es armen Menschen, einen kostenlosen Kaffee zu trinken. In teilnehmenden Cafés kann jeder, der will, zusätzlich zu seinem Kaffee einen weiteren bezahlen, also spenden, den dann irgendwann eine bedürftige Person trinkt. Das funktioniert per Strichliste.

Vis-à-vis dem Café Yucca liegt ein Bordell. Wie in Amsterdam sitzen Frauen in den Schaufenstern und warten auf Kundschaft – ein für Zürich ungewohntes Bild. Angela Tagler vom Yucca, die der Gruppe viel zur 44-jährigen Geschichte der Einrichtung erzählt, kann auch hier entsprechende Informationen beisteuern: „Die Sexarbeiterinnen gegenüber sind jeweils immer nur für drei Monate hier in Zürich. Und gleich um die Ecke prostituieren sich junge Männer aus Rumänien.“

Ohne die Stadtführung von Peter Conrath wäre niemand aus der Gruppe am Puff vorbeigekommen. Ganz normale Touristen schon gar nicht.

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