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Stadt der Schönheit und des Auges

■ Zu Joseph Brodskys Venedig-Buch „Ufer der Verlorenen“

Von seinem ersten Geld, das er als Dozent an der Universität von Michigan verdient hatte, kaufte er sich eine Reise nach Venedig. Damals war Joseph Brodsky, später der jüngste Träger des Literaturnobelpreises, gerade aus der Sowjetunion ausgebürgert worden und 32 Jahre alt. Seither kam er jeden Winter zurück aus dem Fegefeuer USA ins kalte Paradies Venedig, und nach siebzehn Besuchen schrieb er sein zweites Stadtporträt, das, wie die Leiningrader Erinnerungen, eine künstliche und ewige Stadt beschwört.

Die beiden Städte am Meer werden zu Zentren zweier Universen und Metaphern der Welt; der Geruch des Seetangs ruft dem Ankommenden in Venedig die Stadt im Norden zurück, und der Aal, der er in seiner frühen Jugend hätte sein müssen, um der Ostsee zu entkommen, gleitet am Ende mit einer Gondel durch das nächtliche Kanallabyrinth der Lagunenstadt. Das Ufer der Verlorenen ist anspielungsreich und ein Kainame, zwei Minuten von der Wohnung der Witwe Ezra Pounds entfernt, der Dichter sein wollte, aber glaubte, daß Schönheit sich herstellen ließe, und vergaß, daß zwischen Rapallo und den deutschen Hinrichtungen in Litauen keine Zeit war.

Ufer der Verlorenen erzählt die Geschichte einer frühen Liebe, geweckt von den verblaßten Sepiapostkarten einer Leningrader Freundin, durch ein Foto der Piazza San Marco in einem 'Life‘-Magazin, einem Roman Henri de Régniers oder einer venezianischen Augenweide in Velours und Seide, und die ohne Garantie auf Erwiderung anhält, bis ihr Gegenstand, die Stadt, zum Inbegriff der Liebe und ihrer Theorie geworden ist. Die Stadt, die sich in diesem Reisenden spiegelt wie im Wasser, nimmt ihn auf, bewahrt und vermengt ihn mit anderen zu „unwiederholbaren Mustern“, aus denen die Zeit „vielleicht eine bessere Version der Zukunft zusammensetzen“ kann. Während die Menschen vergehen, haben Liebe und Schönheit, die in Venedig Gestalt gewinnen, „ewige Gegenwart“.

Schönheit und Liebe sind für den (nicht dialektischen) Materialisten Brodsky eine Frage des Licht und der Biophysik, ihr Organ ist das Auge und Venedig die Stadt des Auges. Vom Hotelzimmer bis zum Wasser gibt es nur Spiegel und Oberflächen, alles will gesehen werden; die Menschen sind vom Kaufrausch besessen, weil der nackte Körper der Schönheit der Säulen, Fassaden und Statuen hoffnungslos unterlegen ist. Das Auge gewinnt in Venedig seine Autonomie und wird, indem es seiner „Feder vorausläuft“, zum Kernstück der Ästhetik Brodskys. An die Stelle der Psycholgie treten die Chemie der Wahrnehmung und die Fülle der kulturgeschichtlichen Assoziationen.

Brodskys Venedig ist ein Labyrinth voller grotesker Monster im Winterlicht, die auf steinernem Posten unsere genetische Vergangenheit wachhalten, ein Hirn wie die Kopfgeburt des Daedalus, Zentrum der christlichen wie der antiken Welt, und der Muezzin auf der Moschee oder das Kriegsschiff aus Ägypten sind Gegenwart und Geschichte in einem. Der Schirokko schreibt auf die Kanäle vergessene Bibliotheken und Notenblätter zur Musik Vivaldis. In einem Riesenaquarell Canalettos scheint „der Geist Gottes auf dem Wasser“, und da er für Brodsky die Zeit ist, wird das Wasser zum Spiegel von Zeit und Raum und die Stadt zum Inbegriff einer zeitlosen Welt. Im Nebel erstarrt das Leben, in den Räumen eines jahrhundertealten Palazzo lösen sich die Draperien auf, Brodsky sagt „zurück in die Zeit“, und die Lüsternheit der Putti wie der Homosexuellen bleibt unfruchtbar, leer wie die stumpf gewordenen Spiegel.

In Joseph Brodskys Venedig gibt es auch Korruption, stinkende Vaporetti und klamme Häuser, aber Ufer der Verlorenen fasziniert gerade deswegen, weil es selbst die Malaisen des Alltags, bis zu der Anekdote über W.H. Audens Träne oder der eigenen Herzgeschichte, einzubinden weiß in seine Stadt der Liebe, in seine Konzeption der Schönheit und seine Theorie der Dichtkunst. Venedig wird, wie seine Schwester Sankt Petersburg, zum Ort der fischgeborenen und Schönheit spielenden Menschheit. Gerhard Mack

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, Hanser Verlag, München 1991, 22DM

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